Ein neues Zuhause

Nach dem ersten Schreck über unsere „Räumungsklage“ erleben wir mit Staunen, wie sich unser derzeitiges Haus vor unseren Augen in ein Traumschloss verwandelt. Wie lieben wir auf einmal das knarrende Parkett, die großen, ständig klemmenden Fenster, die wackelige Treppe zur Eingangstür! Ach, könnten wir doch hier bleiben, ich nähme auch mit Freuden die fürchterliche Dusche in Kauf…

Aber Sentimentalität bringt uns nicht weiter. Wir brauchen eine neue Wohnung. Also krempeln wir die Ärmel hoch und machen uns auf die Suche.

Im Språkcafé frage ich meine Gesprächspartnerin, eine Dame fortgeschrittenen Alters, ob sie mir beim Verfassen eines Wohnungsgesuches helfen würde. Sie gibt zu bedenken, das habe sie zuletzt in den 50er-Jahren gemacht, aber sie wolle es gern versuchen. Nach 2 Stunden liest sich unser Text etwa so:
„Wohngelegenheit gesucht von anständiger deutscher Familie in geordneten Verhältnissen mit gesichertem Einkommen…“

Wir haben beide das Gefühl, dass das zwar grammatikalisch korrekt ist, aber inhaltlich nicht sonderlich aussichtsreich. Abends durchsuche ich das Internet nach Wohnungsgesuchen von jungen Familien und kopiere mir eine neue Anzeige zusammen. Mir fällt auf, das in allen Anzeigen der Satz steht: „Wir haben ausgezeichnete Referenzen und vermitteln dir gern einen Kontakt.“

Ich frage Ingela, meine 86-jährige schwedische Adoptiv-Oma, ob sie sich von einem potenziellen Vermieter über uns aushorchen lassen würde. „Klar“, schreibt sie, „mach nur, ich empfehle euch.“

Auf dem Wohnungsmarkt in Uppsala sieht es nicht üppig aus. Wir schicken unsere Anzeige an 3 Vermieter. Zwei sagen aus fadenscheinigen Gründen ab; ich vermute heimlich, dass sie keine Ausländer als Mieter wollen. Einer schreibt freundlich zurück und fragt nach unseren Referenzen.

Ich gebe ihm Ingelas Adresse und erkläre, dass wir sie aus der Kirche kennen. Die Antwort folgt postwendend. „Kommt doch am Sonntag vorbei, um euch das Haus anzuschauen. Am besten gegen 14 Uhr, dann sind wir aus der Kirche zurück.“

Ingela sagt später, der Vermieter habe sich nicht bei ihr gemeldet. Vielleicht war ihm das Wort „Kirche“ schon genug Referenz.

Wir fahren am Sonntag Nachmittag hin, lernen das Haus und die Familie kennen. Nein, es ist kein rotes Holzhaus auf dem Land, sondern ein modernes Reihenhaus in einer Siedlung neben einem Industriegebiet. Unmöbliert. Ein kleiner Garten. Wir zögern. „Unmöbliert“ bedeutet für uns: Möbel kaufen. Denn unsere Betten, Tische, Stühle, Schreibtische, Regale liegen ja auseinandergeschraubt in einem Lager in Deutschland.

Aber wir haben auch keine Alternative.

Ich rede mir das Möbelkaufen schön. Beginnen nicht die besten Artikel in den Schöner-Wohnen-Zeitschriften immer mit dem Satz: „Als sie die Möglichkeit bekam, ein ganzes Haus einzurichten…“? Ich werde die lokalen Flohmärkte durchkämmen. (Ein Kinderspiel mit zwei Kleinkindern im Schlepptau.) Vielleicht können wir uns sogar irgendwo Möbel ausleihen.

Wir versuchen, alle möglichen Fallstricke zu durchdenken und Lösungen zu finden, dann holen wir tief Luft und sagen dem Vermieter zu. Und spüren Erleichterung: Ziel erreicht. Anständige deutsche Familie hat Wohngelegenheit gefunden.

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Zuhause

Reisende, die mit dem Zug nach Uppsala kommen, werden am Bahnhof mit den Worten begrüßt: „Willkommen Zuhause.“ Wir sind jetzt knapp 7 Monate hier und so langsam fühlt sich der Satz für uns nicht mehr komisch an. Heute schreibe ich allerdings eine Zuhause-Geschichte über jemand anderen.

Es war einmal eine abenteuerlustige schwedische Familie: Mutter, Vater und zwei kleine Jungs. Und weil die Mutter als Französischlehrerin an einer schwedischen Schule arbeitete, fand sie, sie könnte doch ebensogut an einer französischen Schule als Schwedisch-Lehrerin arbeiten. Gesagt, getan: Die Familie unterschrieb einen 2-Jahres-Vertrag in Paris. Ihr Haus vermietete sie an eine abenteuerlustige deutsche Familie, die zeitgleich einen 2-Jahres-Vertrag in Schweden unterschrieben hatte.
Nämlich an uns.

Das große, etwas baufällige Haus hatte die schwedische Familie gerade erst gekauft und praktischer Weise vorerst unrenoviert gelassen. – Verständlich. Trotzdem finde ich es gelegentlich lästig. Die Tapeten sind verblichen und blättern an manchen Stellen ab, die Dusche ist schauerlich. Jedesmal, wenn mit einem Mords-Getöse die Badewannenverkleidung abfällt, habe ich das Gefühl, das Haus schreit nach seinen Besitzern: Sie sollen endlich wiederkommen, das Haus wieder in Besitz nehmen und es gründlich und liebevoll sanieren.

Und wie es scheint, haben unsere Vermieter das Schreien gehört.

„Wir brechen unseren Frankreich-Aufenthalt vorzeitig ab“, schreiben sie uns in einer E-Mail. „Wir haben allesamt Sehnsucht nach Zuhause.“

Diese Option war natürlich vorher besprochen, trotzdem sind wir kurzzeitig sprachlos. Mein erster Gedanke: Nicht schon wieder umziehen. Dann folgen in rascher Folge:

  1. Was wird aus meinem frisch angepflanzten Gemüsegarten?
  2. Ausgerechnet jetzt, wo wir gerade erste Freunde gefunden haben!
  3. Adieu, schauerliche Dusche!
  4. (ganz leise im Hinterkopf:) Wie würden wir uns wohl entscheiden, wenn wir noch die Möglichkeit hätten, nach Hause in unser altes Leben zurück zu kehren?
  5. Wenn man in Paris Sehnsucht nach Uppsala hat, sind wir vielleicht genau am richrigen Ort?

Und dann habe ich plötzlich das Gefühl, als nähme mich Gott bei der Hand und würde sagen: „Weiter geht’s!“

Und Abraham zog weiter.

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Chormusik

In unsere Kirche gibt es einen sehr guten gemischten Chor, den ich schon länger bewundere. Wer den Film „Wie im Himmel“ kennt, weiß, dass es etwas Besonderes auf sich hat mit den schwedischen Chören. Das Singen hat hierzulande einen hohen Stellenwert und wird überall praktiziert. Von der Krabbelgruppe an singt man zusammen. Alle singen. (Niemand spielt Theater.)

Nach dem Gottesdienst hat neulich jemand zu mir gesagt, ich hätte eine feine Stimme, ich könnte doch mal zur Chorprobe kommen. Meine letzte Chorprobe fand im letzten Jahrtausend statt, aber ich kann Noten lesen und Töne treffen, also traue ich mich tatsächlich, hinzugehen. Im Schlepptau: meine 4 Monate alte Tochter. Ich hoffe, dass sie sich ruhig verhält und wir nicht gleich beim ersten Mal rausfliegen.

Schon bei den Aufwärmübungen wird  mir klar, dass das hier für mich eine Herausforderung wird. Die Schweden haben nämlich nicht nur die 5 Vokale A E I O U, sondern insgesamt 9 Vokale: A Å O U I Y E Ä Ö. Und die klingen alle etwas anders als im Deutschen. Es geht nicht nur darum,  eine Note zu treffen, sondern auch, den richtigen Klang dabei zu erzeugen.

„Yyy“, korrigiert die Chorleiterin,  „nicht Yyy!“ (Ich schwöre, ich habe keinen Unterschied gehört.) 

Nach der ersten Chorprobe als Sopran bin ich fix und fertig, halte mich für vollkommen untalentiert und schäme mich in Grund und Boden für meinen deutschen Akzent.

Bei der zweiten Chorprobe kapiere ich: ich bin kein vollkommen  untalentierter Sopran,  sondern einfach eine Altstimme.  Wenn neben  mir jemand laut und richtig singt, komme ich schon ganz gut mit. Und als die Chorleiterin scherzt: „Mendelsohn-Bartholdy klingt auf Schwedisch einfach viiiel schöner als auf Deutsch mit diesen vielen Konsonanten“, da kichern einige und schauen zu mir rüber, und dann lachen wir alle zusammen.

Die Stücke sind schwer, meistens 8-stimmig, und wenn wir alle sauber singen, klingen wir manchmal wirklich wie im Himmel. Ich bin stolz, dass ich dabei sein darf.

Mein Baby macht sich übrigens gut, es hat sämtliche Altstimmen um den Finger gewickelt. Es hört lange aufmerksam zu, als würde es die Musik genauso genießen wie ich, dann schließt es die Augen und schläft ein.

Eines unsere Lieder, hier allerdings von einem Kinderchor gesungen:

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