Herausfinden, wie der Hase läuft

Habe meinen ersten Arbeitstag erfolgreich absolviert – bin allerdings mehrfach zwischendrin eingenickt. Rund 275 Stunden am Stück sind einfach zu viel. Nun würde ich am liebsten Elternzeit nehmen. Das bisschen Haushalt – kein Problem für mich. Es würde jeden Tag Pommes und Hähnchen geben – beides aus der Fritteuse. Und dann würde ich ständig Gitarre spielen.

Bei der Gelegenheit fällt mir ein: Ich habe letztens ein Toastbrot in unseren Toaster gesteckt und dabei festgestellt, dass unsere Vermieter tatsächlich innerhalb von Sekunden einen Anruf von der Sicherheitsfirma bekommen, wenn der Feuermelder in unserer Bude losgeht. Ein klasse System! Unsere Vermieter leben derzeit in Frankreich. Es war wohl ein recht früher Morgen. Kein Problem, das mit dem Telefonieren zwischen Frankreich und Schweden klappt gut.

Nun gut – leider haben wir keine Fritteuse. Ich muss also morgen erstmal weiterarbeiten. Mein Team besteht mit mir aus sechs Mitarbeitern – davon sind drei zurzeit in Elternzeit. Sogar eine der Elternzeitvertretungen ist im fünften Monat schwanger. Die Arbeit wird trotzdem gut geschafft. Alles ist im Fluss und flexibel, es gibt so gut wie keine fixe Aufgabenverteilung.

Die ersten Wochen waren sehr anstrengend. Meine Arbeitszeit liegt derzeit noch jenseits meiner langfristigen Schmerzgrenze. Zum Reinkommen, Einarbeiten, Herausfinden, wie die Leute um mich herum ticken, zu lernen „wie der Hase läuft“, brauche ich einfach Zeit. Erfreulicherweise wird es von Tag zu Tag besser, ich habe Erfolgserlebnisse und es gibt Arbeitstage, da ist der Stress irgendwie berauschend – im positiven Sinne.

Regelmäßig gegen 18.30 Uhr setze ich dann zur Landung an und komme in „unser schönes Haus in Uppsala Weden“ (Zitat Richard). Sobald ich durch die Eingangstür trete, rennt mich Richard fröhlich jauchzend, die Arme weit ausgestreckt, fast um, während es aus der Küche entweder nach süßen Plätzchen oder einem liebevoll zubereiteten Abendessen duftet und ein heimeliges schwedisches Lied mit der schwedischen Dunstabzugshaube um die Deutungshoheit kämpft.

img_5895

Auch in dieser Zeit, in der ich beruflich, wie ja gewünscht, ordentlich herausgefordert werde, geht es uns als Familie richtig gut. Ich bin einfach dankbar.

V

Familientag am Meer

2016_10_ausflug-halstervik_7

Pünktlich zum Wochenende kommt die Sonne wieder hervor!  Heute genießen wir Familienzeit. Mit unserem Einzelkind, das in ein paar Wochen ein großer Bruder sein wird.

Wir steigen ins Auto und fahren auf gut Glück Richtung Osten, ans Meer. Vielleicht ist es das Ostfriesen-Gen, das uns zur nächstgelegenen Küste treibt. Nach anderthalb Stunden Fahrt durch tiefe Wälder, unterbrochen nur von gelegentlichen Seen und Drei-Häuser-Ansiedlungen, landen wir an einem Hafen: Wir haben die Ostsee gefunden.

2016_10_ausflug-halstervik_5

Ein eisiger Wind weht. Ein paar dick eingepackte Segler machen ihre Kähne winterfest; die meisten Boote stehen bereits unter Planen an Land.

2016_10_ausflug-halstervik_9

Das einzige Restaurant ist im Winter geschlossen. Zum Glück habe ich vorausschauend Apfelschnitze und ein paar Brote eingepackt. Das wird unser Picknick.

2016_10_ausflug-halstervik_2

Aber lange halten wir es in der Kälte nicht aus. Windzerzaust, sonnenbetankt und dankbar für die gemeinsame Zeit fahren wir wieder zurück nach Uppsala.

G

Herbst

img_5817

Nicht nur werden die Tage hier im hohen Norden rasch kürzer – es scheint auch, als würde es tagsüber gar nicht mehr so richtig hell. Die Sonne verbirgt sich hinter dicken Wolken. Fünf Grad plus. Mal regnet es, mal nicht.

Heute Morgen schaut Richard aus dem Fenster und stellt fest: „Oh. Wieder Abend.“ Statt seines verschmitzten „Duten Morgen, alle Salz!“ (Guten Morgen, allerseits) ruft er schon vormittags das Abendessen aus.

Wir überfluten den Frühstückstisch mit Tageslicht aus der Tageslichtlampe und fühlen uns danach wirklich etwas wacher. Gut, dass wir die Lampe vorsorglich noch in der alten Heimat gekauft haben.

Wenn es dann nachmittags wieder dunkel wird, machen wir es uns mit Kerzenlicht und Plätzchen gemütlich. Und freuen uns riesig über Post aus Deutschland. Danke, Ihr Lieben, für Eure Zeilen – natürlich auch für die digitalen, über die wir uns immer so freuen!

2016_10_brief

Heute staunen wir über eine Postkarte aus Fernost.
Gesina: „Bali – ich weiß gar nicht so genau, wo das ist.“
Richard mitfühlend: „Ist einfach weg!“

G

Die begleitende Ehefrau

Volker berichtet, dass ihn gelegentlich Kollegen nach seiner Frau fragen – mit einem gewissen, sorgenvoll-mitfühlenden Unterton. Offenbar stehen die begleitenden Ehefrauen von „Expatriates“, also entsendeten Arbeitnehmern, in der Gefahr, Probleme zu haben. Oder zu machen.

Während die Männer meistens sehr viel arbeiten, sitzen die Frauen einsam zuhause, vermissen ihre Familie und Freunde, finden keinen Anschluss in der neuen Stadt, werden unglücklich und vorwurfsvoll. Am Ende geht entweder die Ehe in die Brüche oder die Familie zieht überstürzt zurück in die Heimat.

Ich kann alle, die diese Sorge teilen, beruhigen. Ja, auch mein Mann arbeitet sehr viel. Aber in unserem Fall geht’s der „begleitenden Ehefrau“ gut.

2016_10_die-begleitende-ehefrau

Seitdem der Umzug bewältigt und die Wohnung einigermaßen wohnlich ist, ist in mein Leben eine tiefe Ruhe eingekehrt. Eine schöne Ruhe. „Was machst du eigentlich die ganzen Woche?“, fragt mich eine andere Mutter. Die Antwort: Ich gehe zur Krabbelgruppe und zum Sprach-Café. Wir gehen zum Gottesdienst. Manchmal mache ich mit unserem 2-Jährigen Ausflüge mit dem Fahrrad in die Stadt, zur Bibliothek, und wir leihen uns Bilderbücher aus. Wir basteln eine Laterne und ziehen damit um die Häuser. Abends lernen Volker und ich zusammen Schwedisch-Vokabeln. Nichts Großes.

Ich merke, wie gut mir diese Ruhe tut. Vor allem meiner Schwangerschaft. Endlich sind die häufigen Bauchschmerzen verschwunden. Der 9. Schwangerschaftsmonat ist angebrochen. Ich schlafe viel. Weil es so kalt ist und so früh dunkel wird, fühlt es sich fast an wie Winterschlaf.

G

Church-Hopping

In Frankfurt haben wir eine sehr sympathische Kirchengemeinde zurückgelassen. In Stuttgart vorher auch. Wir wünschen uns, wieder eine solch schöne Gemeinschaft zu finden.

Hier in Uppsala starten wir bei Null. Und fragen uns erstmal: Was genau wollen wir eigentlich? Wo liegen unsere Prioritäten bei der Suche nach einer neuen Gemeinde?

  • Hauptsache eine gute Predigt, der wir gerne zuhören und aus der wir mit guten Impulsen in die neue Woche starten?
  • Hauptsache coole Musik – oder wäre auch Orgel und Gesangbuch okay?
  • Hauptsache nette Leute, vorzugsweise in unserem Alter?
  • Hauptsache eine vernünftige Kinderbetreuung?

Überhaupt: Wollen wir eine internationale Gemeinde oder vertrauen wir darauf, dass wir schnell genug Schwedisch lernen, um einem schwedischen Gottesdienst folgen zu können?

Letztlich entscheiden wir uns, nach einer lebendigen Gemeinde zu suchen, in der die Predigt auf Englisch übersetzt wird und in der es eine gute Kinderbetreuung gibt. Der Rest wäre schön, ist aber erstmal zweitrangig.

Volker konsultiert das Internet. Nun haben wir eine Liste von 3 Gemeinden, die wir uns anschauen wollen. Pragmatisch starten wir mit der nächstgelegenen.

Man kann sich sehr einsam fühlen, wenn man eine fremde Kirche betritt. In unserem Fall passiert das Gegenteil.

Im Inneren des modernen Gebäudes empfangen uns die Klänge eines Liedes, das ich seit Kindertagen liebe: „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren“. Ich bin berührt.

Wir ziehen unsere Winterjacken aus und werden noch in der Garderobe von einem jungen Paar auf Deutsch angesprochen: „Habt Ihr da gerade Deutsch geredet?“ Das sind Sandra und Felix aus Berlin, ihre Tochter ist sechs und sieht ein bisschen aus wie Ronja Räubertochter. Nach ein paar Minuten nimmt Ronja Richard bei der Hand und zieht mit ihm ab zur Kinderbetreuung. Er geht mit ihr, als würde er sie schon immer kennen. Sandra versorgt uns mit Hörgeräten für die englische Übersetzung. Wir sind völlig fremd und fühlen wir uns dennoch, als kämen wir nach hause. Und als die Gemeinde singt: „Herren, vår Gud, är en konung i makt och i ära“, da singe ich lauthals mit: „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren!“

Nach dem Gottesdienst laden uns die Berliner zum Essen ein, „und wenn ihr wollt, könnt ihr auch gleich zum Hauskreis bleiben?“ – Wir sagen ja und sitzen kurz darauf in großer Runde mit Deutschen, Schweden und Australiern um einen gewaltigen Topf Kürbissuppe herum. Drei Sprachen fliegen über den Tisch, dazwischen plappern die Kinder, was für eine herrliche Gemeinschaft. Am Ende sind alle satt und die Kinder ziehen ab auf den Spielplatz, Richard inklusive. Wir Erwachsenen kommen zur Ruhe und lesen zusammen einen Text aus der Bibel. Dann tauschen wir uns darüber aus, was er bedeutet und was er mit unserem eigenen Leben zu tun hat. Am Ende beten wir zusammen das Vaterunser, laut, jeder in seiner Sprache.

Alter Schwede. Unsere Suche nach einer neuen Gemeinde verläuft überraschend viel einfacher, als wir uns das gedacht hätten.

G

Mein Haushaltsgehilfe

Wer braucht eine Haushaltshilfe, wenn er einen 2-jährigen Sohn hat?

Es gibt nichts, bei dem Richard nicht helfen möchte. Ich lasse ihn, wann immer es keine ernsthaften Verletzungen zu befürchten gibt.

img_5772

Richard schrubbt das Geschirr mit der Spülbürste, flitzt mit dem Staubsauger durch die Wohnung und nimmt die trockene Wäsche von der Leine. Dabei stellt er sich zuerst auf einen Hocker und sammelt von oben die Klammern ein, anschließend hebt er die runtergefallene Wäsche vom Boden auf. Das Ergebnis wäre bei mir auch nicht anders.

Heute holen wir zusammen die Babysachen aus dem Keller. Das Baby hat zwar noch 8 Wochen Zeit, aber es ist gerade so schönes Wetter zum Draußen-Wäsche-Trocknen. So kriegt unser Dezemberkind noch eine Prise Herbstsonne mit.

Ich freue mich total, die Mini-Klamotten von Richard wieder zu sehen. Ergänzt werden sie durch einzelne, ausgewählte Bodys und Kleidchen in Mädchenfarben, die ich auf Flohmärkten gekauft oder selbst genäht habe. Es ist schön, sich vorzustellen, wie das Kind darin aussehen wird. Dadurch bekommt es plötzlich ein Gesicht, auch wenn es noch nicht geboren ist.

Die geöffnete Kiste mit Babysachen steht einen Moment unbeobachtet im Kinderzimmer. Minuten später kommt mein kleiner Haushaltsgehilfe stolz wie Oskar angerannt: „Mama, Richard helft dir! – Gucken!“ Ich folge seiner Aufforderung und muss lachen. Er hat alle Sachen schonmal in die Kommode geräumt. Auf seine Weise.

img_5780

Jetzt flattert alles frisch gewaschen im Herbstwind.

img_5789

G

Schwedisch für Anfänger

Ich muss unbedingt Schwedisch lernen. Es ist einfach zu verlockend, sich mit Englisch zu behelfen. An einer Kirche hängt ein Aushang: „Språkcafé“, das klingt gut. Ich packe mein Kind warm ein, setze es in den Fahrradkindersitz und fahre los durch die herbstlichen Straßen.

sprakcafe

„Hej, välkommen!“ begrüßt mich ein älterer Herr am Eingang und gibt mir die Hand. Ich sage meine auswendig gelernten Sätze auf: „Wir sind neu hier, wir kommen aus Deutschland…“

An locker verstreuten Tischen sitzen kleine Grüppchen von Menschen, meist ein oder zwei Schweden, allesamt Rentner, mit ein oder zwei Fremdsprachlern. Ich sehe Schwarzafrikaner, Asiaten, dunkelhäutige Frauen mit Kopftüchern. Alle tragen eine Wäscheklammer, auf denen ihr Name steht. Ich kriege auch eine.

Ich lande in einer Gruppe mit einer syrischen Muslima und einer irakischen Christin. Und mit Margareta, einer weißhaarigen Schwedin mit herzlichem Lächeln und klarer, langsamer Aussprache. Richard bekommt eine Kiste mit Spielsachen hingestellt und darf sich am Fika-Buffett einen Keks nehmen. Dann geht’s los.

Ich brauche gar kein großes pädagogisch ausgefeiltes Programm. Ich bin unendlich dankbar, dass sich da jemand bereit erklärt, mir ganz einfache Fragen zu stellen und meine Antworten geduldig zu korrigieren. Wohnst du in einem großen Haus? Wie gefällt dir Uppsala? Wann kommt dein Kind zur Welt? Wie ist das Wetter in deinem Land? – Ich antworte, lasse mich korrigieren, frage nach, schreibe mit, lasse mich wieder korrigieren, übe die Aussprache.

Nach einer Stunde bin ich so erschöpft wie nach einer mündlichen Abiturklausur. Richard hat sich zwischenzeitlich weitere Kekse geholt und ist schokoladenverschmiert. Ich glaube, ihm gefällt das Språk-Café auch.

G

The grass is always greener on the other side

Nach getaner Arbeit saßen Richard und ich gestern Abend in unserer Gartenschaukel auf dem Rasen und beobachteten den Sonnenuntergang. Die erste Woche Alltag lag hinter uns. Ich dachte mir, das ist eine gute Gelegenheit fuer folgende Frage: „Und, Richard, wie gefällt es dir hier in Schweden?“ Er antwortet etwas verschmitzt weiter der Sonne entgegenblickend: „Dans söön.“ (Soll heissen: Ganz schön.) „Rasen auch grün.“ Ich staune über soviel philosophischen Tiefgang mit zwei Jahren. Tatsächlich ist der Rasen hier „auch grün“ wie Zuhause in Deutschland, nicht mehr und auch nicht weniger grün, sondern „auch grün“.

2016_10_schatten-im-gras

V.