Frühlingsschrei

„Halt dir mal die Ohren zu. Jetzt kommt mein Frühlingsschrei!“ Das sagt Ronja Räubertochter in einer Geschichte von Astrid Lindgren, als sie nach dem unendliche langen Winter endlich einen Hauch Frühling spürt.

Ich kann das so verstehen. Seit Oktober hatten wir fast durchgängig Schnee. Es war ein sensationell schöner Winter, klirrend kalt und rauh, mit zugefrorenen Seen und Schlittenfahrten und Schneemännern und Iglus, zuletzt lange mit schmutzigem Eis und Unmengen Rollsplitt am Straßenrand.

Aber heute Morgen ist etwas anders. Über Nacht ist unser Iglu im Garten in sich zusammengestürzt. Die Straßen sind schneefrei. Der Himmel ist strahlend blau, ohne Schneewolken am Horizont, und die Sonne bringt erstmals einen Hauch Wärme mit sich.

Mit plötzlichem Tatendrang pumpe ich mein Fahrrad auf und hänge den Kinderfahrradanhänger an. Ich will raus! Kurz darauf fahren wir im Sonnenschein los. Bei meiner letzten Fahrradtour war ich noch schwanger, es muss Monate her sein. Ich fühle mich steif und unfit. Vielleicht liegt es auch an dem 32 kg schweren Anhänger, den ich hinter mir herziehe. Trotz des langsamen Tempos: Das Fahrrad erweitert meinen Aktionsradius beträchtlich. Wir erkunden einen Teil von Uppsala, in dem ich noch nie war, und landen auf einem großen, kunterbunten Spielplatz. An dessen Rand stehen statt Bänken – ich traue meinen Augen kaum – Hollywoodschaukeln für die Eltern. Hier schaukle ich mit dem Baby dekadent hin und her, während der Große durch die Pfützen plantscht.

Eine Spaziergängerin nickt mir freundlich zu und sagt nur zwei Worte: „Våren kommer!“ – Der Frühling kommt!

Es stimmt. Ich freue mich so! Ich möchte einen Frühlingsschrei ausstoßen wie Ronja Räubertochter. Ich vermute allerdings, dass die Frau es missverstehen würde, wenn ich jetzt einfach so losbrüllen würde. (Die Kleine fühlt sich ausnahmsweise nicht angesprochen, sie schläft.)

Über uns zieht eine Schar Lapplandgänse hinweg. Der Frühling kommt!

Wir fahren weiter zum Sprachcafé, wie jede Woche. Hier treffe ich nette ältere Menschen, die bereitwillig mit mir und anderen Ausländern Schwedisch sprechen, smalltalken, Vokabeln üben, Grammatik erklären.

Mein Sohn zieht gleich mit seiner persönlichen Betreuerin los, Elisabeth. Die weißhaarige Dame setzt sich Woche für Woche zwei Stunden lang mit dem Zweieinhalbjährigen auf den Fußboden, baut die Brio-Eisenbahn auf und unterhält sich auf Schwedisch mit ihm. Nach wie vor antwortet er ausschließlich auf Deutsch, aber er versteht viel von dem, was sie sagt.

Ich unterhalte mich heute mit Ingela, 86 Jahre alt. Sie hört schlecht und braucht zum Gehen einen Stock, aber sie hat eine E-Mail-Adresse und ein Smartphone. Ganz normal in Schweden. Ingela fragt mich, wie es mir ergangen ist, und mir fällt plötzlich auf: Heute sind wir auf den Tag genau ein halbes Jahr hier. Am 13. September haben wir in unseren Blog geschrieben: „Gelandet!“

Wir haben einen goldenen Herbst erlebt und einen langen, dunklen Winter; mein Mann hat viel zuviel gearbeitet, ich habe ein Kind geboren, wir haben eine neue Sprache gelernt, unsere Komfortzone verlassen, den Autopilot ausgeschaltet, die Antennen ausgefahren.

Wir haben bemerkt, wie schwer es ist, hier Freunde zu finden. In einem schwedischen Buch habe ich den Satz gelesen: „Warum ist es für uns eigentlich so kompliziert, neue Freundschaften zu schließen? Als Kind ging es doch auch. Da hat man einfach geklingelt und gefragt: Wollen wir zusammen ein Eis essen/baden/ins Kino gehen?“

Ingela sagt, jedes Mal, wenn sie innerhalb von Schweden umgezogen ist, hat sie sich aufs Neue einsam gefühlt. Jeder ist zu freundlichem Smalltalk bereit, aber niemand lädt einander zum Kaffee ein. Niemand verabredet sich. Seine Nachbarn kennt man allenfalls vom Sehen.

„Ich habe beinahe das Gefühl, es gilt als unhöflich und distanzlos, einander einzuladen“, sage ich zu Ingela. Sie schüttelt den Kopf. Und dann lädt sie mich zum Kaffeetrinken zu sich nach Hause ein.

„Aber ich komme mit zwei kleinen Kindern“, gebe ich zu bedenken. Sie antwortet: „Ich habe 5 Kinder, 11 Enkelkinder und 2 Urenkel. Mein Mann ist gestorben. Meine Familie lebt in ganz Schweden verstreut. Ich freue mich über Kinder-Besuch.“

Ich glaube, Ingela hat keine Ahnung, wie viel mir diese Einladung bedeutet. Oder vielleicht auch doch.

Und jetzt muss es einfach sein.

Haltet Euch die Ohren zu. Jetzt kommt mein Frühlingsschreiiiiiiiiii!

G

Winter, Winter

Blick aus unserem Fenster: Es ist kalt, grau und stürmisch.

Ich habe das Gefühl, das Wetter hat auf mich abgefärbt. Drei Monate nicht enden wollenden Geschreis liegen hinter mir; ein Schneesturm ist nichts dagegen. Ich sehne mich nach Frühling. In jeder Hinsicht.

Dabei haben wir eigentlich Grund zum Feiern: Die Dreimonatskoliken sind vorbei! Unserer Tochter geht es erheblich besser. Endlich kann sie ihre wahre Persönlichkeit zeigen. Sie schläft nachts durch; tags liegt sie zufrieden im Ställchen, macht niedliche kleine Laute und lächelt jeden an, der sich über sie beugt.

Ich aber bin k.o. In meinem Ohr klingen die schrillen Töne der letzten Wochen noch nach. Mein Mann und ich reden ernsthaft. „Ich würde so gerne…“ fängt er an, und ich falle ihm ins Wort: „Ich auch.“

Ich buche einen Flug nach Deutschland. Ein Erwachsener, zwei Kinder, auf dem Weg in den Frühling. Ein paar Tage Auszeit bei Oma und Opa. März ist die Zeit, in der im Hühnerstall die Küken schlüpfen.

Vater Abraham hält im schwedischen Winter die Stellung.

P.S. Wir planen am Sonntag, den 19.3. einen Besuch in Frankfurt, evtl. mit Übernachtung. Möchte uns jemand treffen? Zu sich einladen?

G

Rückblick

Heute bin ich melancholisch. Vor einem halben Jahr endete unser altes Leben in Frankfurt.

Schon seit Wochen hatten wir unseren Hausstand sortiert, gründlich ausgemistet, Bücher verschenkt, Möbel verkauft, Abschied genommen. Einen letzten schönen Tag wollten wir noch verbringen, ehe die Möbelpacker kommen sollten: Den 2. Geburtstag unseres Sohnes.

Noch ein letztes Mal schmiss ich den Ofen an. Ich backte süßes Blätterteiggebäck und herzhafte Käseplätzchen. Dann rollte ich auf der Terrasse eine bunte Papiertischdecke aus, verteilte Smarties darauf, gruppierte Sitzkissen drumherum und füllte das Gebäck in Schalen. Ein sonniger Herbsttag. Kindergeburtstag und Abschiedsfest, fröhlich und traurig zugleich.

Alle Nachbarskinder kamen und feierten mit. (Wenn Ihr wüsstet, wie sehr wir Euch vermissen!) Es gab Geschenke und Tränen.

Als das Fest vorbei war, gingen erst die Gäste nach hause, dann fuhr mein Mann auf Dienstreise nach Schweden, zuletzt fuhr mein kleiner Sohn mit der Oma fort. Zurück blieb ich in dem kahlen Haus. Sehr traurig und sehr allein, wartete ich auf die Möbelpacker, die am nächsten Morgen unseren gesamten Besitz in Kisten verstauen und in einen LKW laden sollten.

Das taten sie gründlich und effizient. Innerhalb von 2 Tagen war von unserem Zuhause nicht mehr übrig als – ich.

Während unser Besitz teils nach Schweden fuhr, teils in einem Lager eingeladen wurde,  wohnten wir bei Oma und Opa, bis wir knapp eine Woche später selbst in den Flieger stiegen. Wohnungslos, hoffnungsvoll, auf dem Weg in ein neues Zuhause in Schweden.

G

Flohmarkt

Schon als Kind habe ich Flohmärkte geliebt. Seit ich mit 8 oder 10 Jahren gelernt habe, wie man um einen Kaufpreis verhandelt, habe ich mit Begeisterung und Selbstbewusstsein um große und kleine Schätze gefeilscht.

Heute habe ich selber Kinder und finde Flohmarkt-Kleidung auch ökologisch und gesundheitlich unschlagbar. Zig Mal gewaschen, sind sie frei von Chemikalien. Kein „Made in Bangladesh“-Unternehmen verdient  mit. Und noch immer freue ich mich, wenn ich Schätze finde. Heute: Mädchenkleider in bunten, fröhlich-schwedischen Stoffen.

Hier in Schweden finden Flohmärkte meist in Hallen statt, kosten Eintritt und sind auf drei Stunden beschränkt. Kein Wunder, bei dem Wetter. (Bei uns hat’s heute nochmal kräftig geschneit, Anfang März ist von Frühling keine Spur.)

Wir stellen uns in eine 50 Meter lange Schlange und stürzen uns beim Startschuss mit ca. 500 anderen Leuten auf die Tische, die sich unter Kinderklamotten und Spielzeug biegen.

Wir – das sind heute ich und eine gute Freundin aus Stuttgart, die mit ihren  jüngsten Sohn für das Wochenende angereist ist. Ihr Besuch macht mir noch einmal bewusst, wie sehr ich meine Freunde vermisst habe. Wie gut es tut, gemeinsam Tee zu trinken, sich mal für einen Moment gegenseitig die Kinder abzunehmen, Sätze mit „Geht es dir auch so, dass …?“ zu beginnen. Oder eben: einen Flohmarkt zu durchkämmen.

Richard ist begeistert über unser süßes Besuchs-Krabbelkind. Nur dass dieses eifrig die Regale ausräumt und Spielzeug in den Mund  nimmt, findet er irritierend.  Warum schreitet da bloß keiner ein? Und so höre ich ihn mahnen: „Nein, David, Sachen runterschmeißen ist NICHT schön!“

Irgendwie kommt mir dieder Tonfall bekannt vor.

G