Auf „Abrahams-Inn“ ist nichts los. Wer jetzt denkt, dass Mutter und Vater Abraham mit einer Tasse Tee im Kerzenschein sitzen und gedankenverloren zum Fenster in den glitzernden Schnee hinausschauen, liegt falsch. Mit der Ruhe ist es vorbei, der Schnee ist geschmolzen und Kerzen werden schon aus Prinzip nicht mehr angezündet. Ich weiß nie, ob ich in den nächsten Stunden wieder an der Kerze vorbei komme. Oder in einer Endlosschleife zwischen Wickeltisch und Stillsessel lande.
Linnea ist jetzt 5 Wochen alt, hat anderthalb Kilo zugenommen, ist 5 cm gewachsen und entwickelt sich richtig gut. Aus den allerkleinsten Babysachen ist sie schon rausgewachsen, und ich freue mich, zu sehen, wie sie langsam in die ersten Geschenke reinwächst.
Leider hat sie sehr oft Bauchschmerzen und weint viel und lange. Ich muss all meinen Erfindungsgeist aktivieren, um dann herauszufinden, was ihr hilft. Herumtragen im Tragetuch? In Bauchlage schaukeln? Bauch massieren? Oder einfach trösten und liebhaben?
Gestern habe ich ihr ein Mobilé gebaut. Das lenkt sie ab und sie schaut fasziniert zu, wie es sich dreht und in den Sonnenstrahlen glitzert. Die wunderschöne Papierkunst – eigentlich für den Weihnachtsbaum gedacht – habe ich vor einigen Jahren von meiner lieben Trauzeugin geschenkt bekommen.
Vor lauter Bauchschmerzen und Geschrei bleibt keine ruhige Minute für andere Dinge. Der Große, der Ehemann, der Haushalt, Essen, Schlafen – alles kommt zu kurz. Volker schleicht morgens gegen sieben aus dem Haus und kommt 12 Stunden später wieder. Nach dem Abendessen arbeitet er im Keller am Laptop weiter.
Das Chaos nimmt zu. Meine Resilienz nimmt ab. Ich bin müde, will meinen funktionierenden Haushalt wieder, wünsche mir Ruhe, um mich zu organisieren, werde dünnhäutig, reizbar.
Da entdecke ich heute einen Bibelvers, der mich ganz persönlich anspricht: „Barmherzig und gnädig ist der HERR, geduldig und von großer Güte.“ (Psalm 103,8)
Mir fällt ein Lied ein, das diesen Vers aufgreift. „Barmherzig, geduldig und gnädig ist er; viel mehr, als ein Vater es kann…“ – Ich habe dieses Lied nie gemocht. Es schien mir unfair meinem eigenen Vater gegenüber, der bei diesem Lied im Vergleich schlecht wegkommt. (Mein Vater ist nämlich ein sehr barmherziger, geduldiger und gnädiger Mensch.)
Heute beginne ich das Lied zum ersten Mal zu verstehen. Ich selbst bin zurzeit oft so unbarmherzig. Ungeduldig. Ungnädig.
Heute setze ich in dieses Lied mich selbst ein. „Barmherzig, geduldig und gnädig ist Gott, viel mehr als ich es kann.“ Da freue ich mich über Gott, der so barmherzig ist. Auch mit mir.
Als später am Abend das Essen im Ofen in Flammen aufgeht, die Kleine schreit und der Große vor Wut seine Autos auf den Küchenboden schmeißt, da gelingt es mir, die Nerven zu behalten, und ich fange einfach an zu singen: „Vergiss nicht zu danken dem ewigen Herrn, er hat dir viel Gutes getan. Barmherzig, geduldig und gnädig ist er…“
Da kann ich inmitten des Chaos’ den zornigen Großen in den Arm nehmen. Die Kleine hört auf zu Weinen. Das Essen kommt halt verbrannt auf den Tisch. Haute Cuisine ist heute nicht dran. Mein Lehrmeister will mir heute was anderes beibringen, glaube ich.
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