Die Katze im Sack

Dieser Blog-Eintrag ist überfällig. Zum einen, weil die Anfänge der Geschichte schon 3 Monate zurück liegen. Zum anderen, weil mich immer wieder Leute gefragt haben, wie es mit unserer neuen Förskola (Kindergarten), die ich damals „Katze im Sack“ genannt habe, weitergegangen ist. Manche Geschichten schreiben sich leichter, wenn man das Ende kennt. Heute schreibe ich sie also.

„Die Eingewöhnung in unserer Förskola dauert für gewöhlich 2 Wochen“, sagt die Erzieherin beim Vorgespräch zu mir. „Mal kürzer, mal länger.“

Ich bin froh über dieses Vorgespräch. Es hilft mir, meine Skepsis gegenüber der neuen Förskola zu überwinden. Zuerst möchte die Erzieherin, dass ich meinen Sohn beschreibe. Womit spielt er gern, was interessiert ihn? Wie äußert er, wenn er unglücklich ist, und was tröstet ihn?

Je länger das Gespräch dauert, desto mehr merke ich: Heute geht es weniger um mein Kind, als um mich. „Wie geht es dir damit, dass Rickard in die Förskola kommt? Glaubst du, dass es einfach wird?“

Nein. Ehrlich gesagt, glaube ich das nicht.

Letztes Jahr, ja. Da war er daran gewöhnt, Zeit ohne mich zu verbringen: bei den Großeltern, mit den Nachbarskindern, der Babysitterin. Aber jetzt sind wir seit einem Jahr im Ausland. Von den nahen Bezugspersonen sind im Alltag nur Mama und Papa übrig gebliebenen. Ich bin es, die mit den Kindern auf den Spielplatz geht, zum Einkaufen, überallhin. Ich backe Brot, mache die Wäsche, räume auf, und währenddessen ist er entweder dabei oder verteilt seine Matchbox-Autos im ganzen Haus.  Ich kann mich darauf verlassen: Er geht nicht ohne mich weg. Und er weiß dasselbe von mir. Der Satz „Ich gehe ohne dich“ ist allenfalls eine leere Drohung.

Und jetzt soll ich auf einmal ohne ihn weggehen? – Nein, ich glaube nicht, dass das einfach wird.

Dann hat die Erzieherin noch eine Neuigkeit für mich. „Komischer Zufall“, sagt sie: „In Rickards Gruppe gibt es dieses Jahr noch drei weitere Kinder, die Deutsch sprechen.“ – Ich muss daran denken, wie ich im Vorfeld für die neue Förskola gebetet habe.

Die Eingewöhnung beginnt. Zwei Wochen lang soll ich meinen Sohn ununterbrochen begleiten, von 9 bis 14 Uhr: Morgens draußen auf dem Spielgelände, später drinnen im Singkreis, beim Mittagessen, beim freien Spiel zwischen Lego-Ecke, Tobe-, Bastel- und Ruheraum.

30 Kinder und 7 Pädagogen, davon knapp die Hälfte Männer. Hinzu kommen 2 schwerbehinderte Mädchen mit eigenen Betreuerinnen. Ich finde die Anzahl der Kinder zuerst ganz schön hoch. Schnell merke ich aber: Die Pädagogen achten immer darauf, dass kleine Gruppen entstehen. Rafael sitzt mit vier Jungs in der Legoecke, Saga verteilt im Atelier Farben und achtet darauf, dass jeder einen Malkittel anzieht, Karin liest eine Geschichte vor. Überall herrscht eine ruhige, harmonische Atmosphäre. Gefällt mir.

Alle Pädagogen begrüßen Richard im Laufe des Tages und stellen ihm viele freundliche Fragen auf Schwedisch. Einer Sprache, die er mittlerweile ein wenig versteht, aber von sich aus kaum spricht. Genau wie ich am Anfang auch, fühlt er sich unsicher, wenn man ihn anspricht, und versucht, sich elegant aus Gesprächen herauszuhalten.

Seine Strategie: Alle Fragen, die er nicht versteht, beantwortet er mit „Ja“. Damit kommt er erstaunlich weit. Das liegt wohl an der Natur der Fragen, die man kleinen Kindern üblicherweise stellt:

„Na, alles klar?“
Ja.
„Fährst du gerade Dreirad?“
Ja.
„Macht das Spaß?“
Ja.

Mit einem unbestimmten „Ja“ vermeidet man Nachfragen. Und Konflikte. Klug.

Gleichzeitig mit meinem Sohn werden noch andere Kinder eingeschult. Nach 2 Tagen dürfen die anderen Mütter für eine halbe Stunde rausgehen, Kaffee trinken. Ich nicht.

Nach einer Woche sind die anderen Kinder eingewöhnt. Meines nicht. Auch nach 2 Wochen nicht.

Ich merke, wie anstrengend die 5 Stunden Kindergarten für meinen Dreijährigen sind. Oft schläft er hinterher lange, manchmal ist er furchtbar schlecht gelaunt. Manchmal bin ich es auch, schließlich sitze ich jeden Tag 5 Stunden auf dem Fußboden rum. Mitsamt meinem Krabbelkind, das ja immer dabei ist. Unser Haushalt liegt brach, ich führe mit meinem schlechten Gewissen Diskussionen, die zu nichts führen:

„Wie sieht es denn hier aus?!“
„Wann sollte ich das denn bitte aufräumen, nachts?“

Langsam, ganz langsam taut mein Sohn in der Förskola auf. Beobachtet genau, und fasst Vertrauen zu einzelnen Pädagogen. Er spricht mit ihnen und leitet von ihrer Reaktion ab, dass sie ihn nicht verstehen. Sich aber bemühen. Dass niemand frustriert ist über die misslungene Kommunikation, oder über ihn. Noch immer braucht er meine Anwesenheit. Die Mama auf den Fußboden als Übersetzerin, Erklärerin, Rückzugsraum.

Mein erster Versuch, für eine halbe Stunde rauszugehen, wird abgebrochen. Er wird hysterisch, panisch. Ein paar Tage später werde ich wieder rausgeschickt, sitze heulend vorm Kindergarten. Er sitzt heulend drinnen.

Nach 2 Wochen schlägt eine der Erzieherinnen vor, wir müssten jetzt durchgreifen. Ich sollte einfach nach hause gehen und meinen Sohn  dalassen. Er werde sich schon fangen.

Ich kann nicht. Die Erzieherin und ich diskutieren. Freundlich, schwedisch, zwischen den Zeilen.  Ich sage: „Ich habe den Eindruck, er ist noch nicht bereit. Außerdem würde es ihm, glaube ich, guttun, wenn er eine feste Bezugsperson hätte.“ Sie sagt: „Na gut. Es soll sich ja für dich richtig anfühlen.“ Durch die schwedische Diskussionskultur gewinne ich nochmal zwei Tage und eine feste Betreuerin.

Es braucht einfach Zeit, Menschen zu vertrauen, deren Sprache man nicht versteht. Darauf zu bauen, dass man sich um einen kümmern wird, wenn man Hilfe braucht, auch wenn man sein Bedürfnis nicht erklären kann. Neue Routinen zu befolgen, wenn man die dazugehörigen Kommandos nicht kennt. („Nu är de dags att städa!“ Aha, Aufräum-Zeit.)
Es braucht Zeit, Mama gehen zu lassen.

Ich wünschte, ich hätte diese gelassene Zuversicht damals schon gehabt. In Wirklichkeit habe ich mich nämlich im Stillen gefragt: Liegt es an mir? Warum klammert mein Kind so? Soll ich eine andere Förskola suchen? Und wäre nicht alles einfacher, wenn wir in Deutschland …“

Dreieinhalb Wochen sitze ich auf dem Kindergarten-Fußboden. Da passiert es:  Ich fühle mich plötzlich überflüssig. Mein Sohn spielt zwischen den anderen Kindern, kommuniziert ein deutsch-schwedisches Mischmasch mit den Erziehern, das funktioniert. Gelegentlich schaut er nach mir, ob ich noch da bin.

„Kann ich morgen ohne dich nach hause gehen?“, frage ich ihn am Abend. „Ja“, antwortet er.

Seitdem geht er jeden Morgen fröhlich zur Förskola.

G

 

 

 

Ein Gedanke zu „Die Katze im Sack“

  1. Liebe Gesina, es freut mich sehr, dass Richard jetzt gerne in den Kindergarten geht. ☺
    Toll, dass Du die schwierigen Tage so durchgestanden hast und nicht aufgegeben hast. Da bewundere ich Dich sehr!!!

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