Der Sturm

DER STURM (Shakespeare) am Frankfurter Schauspielhaus 2016
Regie: Andreas Kriegenburg
Foto: Birgit Hupfeld

 

Erinnert sich noch jemand an den kleinen, lieben Jungen, mit dem wir nach Schweden ausgewandert sind? Ausgeglichen, in sich ruhend, gutgelaunt? Ich selbst habe ihn schon länger nicht mehr gesehen. In den letzten Wochen ist nämlich ein Monster bei uns eingezogen. Das Monster heißt: „Trotzphase“.

Woher kommt plötzlich diese absolute Unfähigkeit unseres Dreijährigen, seine Gefühle zu kontrollieren? Warum muss jede Regel, die unser Zusammenleben als Familie ordnet, infrage gestellt werden?

Hände waschen vor dem Essen. Schuhe ausziehen nach dem Draußenspielen. Wir sprechen mit unserer freundlichen Stimme. Wir hauen nicht.

Warum muss jeder winzige Konflikt eskalieren und in Toben, Kreischen und Irgendwas-Griffbereites-aufs-Parkett-Schmeißen enden?

Ich hasse es, schon morgens vorm Frühstück angeschrien zu werden. Ich hasse es, wenn der Große seine Wut an der Kleinen auslässt.
Ich hasse es, wenn wir am Ende alle Drei brüllen.

Im Vorbeigehen lese ich den Satz: „Leben heißt nicht zu warten, bis der Sturm vorüberzieht, sondern zu lernen, im Regen zu tanzen.“

Das ist Blödsinn. (Entschuldigung, meine Kapazität, differenziert zu denken, ist heute Abend gleich Null.)

„Trotzphase“ heißt, zu warten, dass der Sturm vorüberzieht. Und abends, wenn das Trotzphasen-Kind endlich schläft, die eigenen Gefühle irgendwie zu verarbeiten und nicht am Ehemann auszulassen.

Und nun zu heute.
Ein miesepetriger Herbsttag, eine gerade überstandene Grippe, und als wären die Vorzeichen noch nicht schlecht genug, kriegt die Kleine Zähne. Wir fahren mit dem Bus zur Bibliothek. Ein gutes Buch wird mir guttun, denke ich, und meinem Sohn auch.

Noch ehe wir uns irgendetwas ausleihen können, müssen wir unter  verstohlen vorwurfsvollen Blicken wieder rausgehen: Die Kleine brüllt vor Zahnschmerzen. Ich ziehe den Kindern die Winterklamotten wieder an und haste nach draußen. Die Mütze vom Großen ist weg, die hat er irgendwo in den Gängen verloren. Noch ein Spießrutenlauf, noch einmal einmal wird die Bibliothek von uns beschallt. Bei Minusgraden sitzen wir dann vor der Bibliothek auf einer Parkbank und ich stille das Baby, weil nur das hilft. Der Große quengelt: „Du musst mir eine Geschichte erzählen!“

Er konnte schon ganz früh „Bitte“ und „Danke“ sagen, fällt mir ein. Das war schön. Bitte und Danke sind für mich Schmiermittel der Kommunikation, die Türen öffnen und nicht zuletzt aus Konflikten die Schärfe herausnehmen.
Aber in der Trotzphase geht es ja gerade um Eskalation.

Die Kleine brüllt weiter. Sie holt tief Luft und schreit dann, so laut sie kann. Es fetzt einem die Ohren weg. Ich überlege, mitten am Nachmittag meinen Mann anzurufen. „Hol uns bei der Bibliothek ab. Bitte. Ich kann mit diesen Kindern zurzeit keinen Bus betreten.“

Wir betreten den Bus, und es wird genauso schlimm wie befürchtet. Ich sitze gegen die Fahrtrichtung. Alle anderen Gesichter schauen mich an. Fahrgäste, die zwischenzeitlich aussteigen, atmen draußen sichtbar auf.

Wir kommen nach hause, es folgt  der Kampf ums Schuhe-ausziehen, ich koche Abendessen, in mir tobt es. Wenn ich jetzt meinen Frust nicht loswerde, lasse ich ihn an den Kindern aus, oder zerschmeiße Porzellan.

Aus dem Zimmer meines Bruders drang nach der Schule ohrenbetäubende Musik, fällt mir ein. – Das probiere ich. Ich greife mir eine CD aus meiner Jugend, aus der Zeit vor Mann und Kindern, und stelle die Lautstärke auf ohrenbetäubend. (Die Kinder sind im Wohnzimmer.) Es hilft ein wenig. Am Ende fühlt es sich fast wie Tanzen an.

Den Rest meines Frusts kriegt Vater Abraham ab, als ich ihm beim Abendessen das ganze Elend berichte. „Ich bin heute abend nicht offen für Kritik“, sage ich. „Verbesserungsvorschläge bitte erst morgen – dann kann ich mich denen wieder stellen.“

Ich weiß, dass mein Dreijähriger unter dem Gefühlsgewitter genauso leidet wie ich, wahrscheinlich noch mehr. Ich weiß, dass irgendwo vielleicht eine Stellschraube locker ist, die ich eventuell noch finden werde.

Aber heute habe ich für mich kein abmilderndes Fazit.

Trotzphase ist ätzend. Es gibt keinen leichten Weg dran vorbei. Ich trotze dem täglich neuen Sturm mit all meiner Kraft, mit dem letzten bisschen Liebe und Langmut, das ich aufbringen kann, auch wenn es nie reicht, und hoffe, dass das Gewitter irgendwann vorbeizieht.

G

 

7 Gedanken zu „Der Sturm“

  1. Liebe Gesina,

    ab und zu lese ich hier mit – und was Du heute schreibst, kommt mir sehr bekannt vor. Auch wenn Jonathan etwas älter ist, übt er sich doch grade mal wieder so richtig im Trotzen. Eine superharte Zeit, in der die eigene Geduld und alle pädagogischen Grundsätze und Überzeugungen auf die Probe gestellt werden. Eine Extraportion Gelassenheit und gaaanz viel Kraft Dir!! Und: laute Musik probier ich auch mal aus demnächst. 😉

  2. Mich als ollen Musikus würde jetzt natürlich interessieren, was für ne CD das aus deiner Jugend war? 😉 Und hey die Trotzphase überstehste auch, ich glaub, wenn ich da selbst rekapituliere wie ich drauf war, kommt die nächste und meist auch letzte Trotzphase bei uns Jungs nochmals mit 10, danach sind wir erstmal völlig von der Pubertät ausgeknockt, da sind wir dann sogar zu träge zum trotzig sein.
    Gute Besserung dann noch weiterhin.

      1. Tolles und süßes Lied!

        Eeeeendlich weiß ich, was ich so lange vermisst habe: euren Blog ;-). Hoffe doch sehr, dass die unverkrampfte und ehrliche Art auch beim Loswerden der Frusterlebnisse hilft. Bitte bleibt so und macht weiter … und 1000 Dank!

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