Last night in Sweden

„Look at what’s happening LAST NIGHT IN SWEDEN! Sweden, who would believe this?“

Das sind die vielsagenden Worte des amerikanische Präsidenten Trump vom letzten Freitag.

Schweden staunt, Schweden lacht. Was ist denn in dieser Nacht hier passiert? – Die Antwort: gar nichts. Die Zeitung Aftonbladet druckt eine Zusammenstellung der landesweit wichtigsten Nachrichten auf Englisch mit dem Titel „This happened in Sweden Friday night, Mr President.“
Technische Probleme bei einem Gesangswettbewerb. Ein gestohlener Peugeot in Stockholm.

Die Schweden beweisen Humor und veröffentlichen in den sozialen Netzwerken ihre persönlichen Erlebnisse. Zu gerne würde ich mich anschließen, etwa so:

Last night in Sweden: Knäckebrotscheibe zerbrochen.

Aber die Wahrheit ist: Last night in Sweden war von uns keiner da. Wir sind dem Rat unserer schwedischen Kollegen gefolgt und haben es gemacht wie die Zugvögel. Wenn der Winter Mitte Februar einfach nicht aufhören will, fliegt man in den Süden.

Wir sind so urlaubsreif. Nach den Monaten von Dunkelheit, Arbeit und Babygeschrei sehnen wir uns nach Ruhe, Familienzeit, Sonne.

6 Flugstunden südwestlich von Schweden landen wir jenseits von Afrika, auf der spanischen Insel Gran Canaria. Dort treffen wir nicht nur zahlreiche Deutsche, sondern auch unsere Zugvögel. In den Wipfeln der Palmen flattern neben Kanarienvögeln und Papageien auch Amseln und Wintergoldhähnchen (die gibt’s wirklich) und lassen sich die Sonne aufs Gefieder brennen.
Genau wie wir.

Die ungesunde Blässe verschwindet. Die Augenringe auch. Wir baden, essen, und Richard gräbt den staubigen Kies mit seinem Bagger um. Eine Woche später fliegen wir braungebrannt und frohgemut wieder nach Hause, wo wir erstmal Schnee schippen müssen.

Es scheint, als sei während unserer Abwesenheit außer leichtem Schneefall wirklich nichts passiert.

G

Limbus

Förskola! Der Grund, warum in Schweden 80% der Frauen berufstätig sind. Hier lassen sich Elternschaft und Erwerbstätigkeit vereinen. Hier werden bei Kindern im Alter von 1-6 „Lernfreude und Selbstvertrauen geweckt“.
Alle, denen ich erzählt habe, dass mein Sohn in die Förskola kommt, haben gesagt: „Wie schön! Das wird toll!“

Abenteuerlustig ziehen wir los, um ins schwedische Bildungssystem einzutauchen wie Pippi Langstrumpf in die Wellen von Taka-Tuka-Land.

Ein kleiner Raum in fröhlichen Farben. Eine wunderschöne Frau mit langen, blonden Haaren. Um sie herum 9 niedliche Kinder, alle um die anderthalb Jahre alt. Sie können laufen, aber noch nicht sprechen.

Meine Babytochter nimmt als erstes wahr, dass hier etwas nicht stimmt. Sie beginnt zu schreien und hört für die nächsten anderthalb Stunden, die wir an Tag 1 in der Förskola verbringen, nicht damit auf.

Ich warte erstmal ab. Sicher wird uns gleich jemand willkommen heißen. Sich vorstellen, uns die Räume zeigen, den Tagesablauf erklären. Aber die beiden Erzieherinnen ignorieren uns. Ratlos stehen wir an der Wand. Richard liebäugelt mit den Spielsachen, mein Baby brüllt.

Ein Beamer wirft Youtube-Videos an die Wand des kleinen Raumes. Grüne Comic-Frösche singen mit verzerrten Stimmen: „Die Fröschelein, die Fröschelein, das ist ein lust’ger Chor.“ (Ja, das gibt’s auch auf Schwedisch.) Eine Disco-Kugel wirft unaufhörlich bunte Farbreflexe in jede Ecke des Raumes.

Ich sehe mir die Kinder genauer an. Sie sehen nicht aus wie Pippi Langstrumpf. Eher wie Waisenkinder aus einem Märchen der Gebrüder Grimm. Die meisten saugen heftig an ihren Schnullern. Ein kleines Mädchen mit blondem Zöpfchen schluchzt: „Mama…?“

Ich weiß, es ist normal, wenn ein Kita-Kind beim Abschied von seiner Mutter weint. Alles okay, solange das Weinen nicht länger als 10 Minuten dauert und das Kind danach zufrieden in der Gruppe zu spielen beginnt. Aber nach 10 Minuten weint das Mädchen noch immer. Auch nach einer halben Stunde.
Und noch immer hat uns niemand angesprochen.

Es gibt Obst. Eine Erzieherin packt die Kinder und platziert sie in einem Kreis auf dem Boden. Ein Obstteller wird herumgereicht. Youtube flackert und singt lautstark weiter. Essen vorm Fernseher, denke ich. Na großartig.

Richard hat sich in eine leidlich ruhige Ecke verzogen und erkundet eine Kiste mit Autos. Er ist geschockt, als ihn die Erzieherin ohne Vorwarnung packt und wegträgt. Er strampelt und schreit und wehrt sich. Die Erzieherin wirft mir einen schnellen Blick zu. Was soll ich sagen? – Ich finde die Reaktion meines Kindes angemessen. Ich möchte auch nicht, dass mich jemand Fremdes einfach packt und wegträgt.

Tag zwei. Es wird schlimmer.

Das traurige Mädchen mit dem Zopf weint und weint. Die Erzieherinnen nehmen es hoch und stellen es vor Youtube ab. „Guck mal da, die Fröschelein!“

Ich verziehe mich in den Wickelraum und rufe heimlich meinen Mann an. „Du musst dir das ansehen.“ Er versinkt in Arbeit, aber er verspricht zu kommen.

Ich bitte eine Erzieherin, mir zu erklären, wie man ihren Namen richtig ausspricht. Ich möchte gerne, dass mein Sohn sie ansprechen kann. Ihr Name sei sehr kompliziert, antwortet sie. „Und was sagen die anderen Kinder?“ – „Die sagen nichts.“

Mehr und mehr Kinder stimmen in das traurige Weinen ein. Die Fröschelein singen.

Gegen Mittag passiert etwas. Ein Mann betritt den Raum, gut gekleidet, sehr aufrecht, in einem tadellos gebügelten Hemd. „Här kommer min man“, sage ich, und bilde mir ein, in den Augen der Erzieherinnen zu lesen: Was?! Zu der komischen Frau in den alternativen Klamotten mit dem ewig schreienden Baby gehört dieser Mann?
(Yep. Ich kann’s manchmal auch kaum glauben.
Aber darum geht’s hier nicht.)

Für die Dauer einer Mittagspause hat jede Erzieherin ein Kind auf dem Schoß und ein Lächeln im Gesicht. Das weinende Mädchen wird aus dem Zimmer gebracht und schlafen gelegt. Dann muss mein Mann weiterarbeiten und alles ist wie vorher.

„Mama…?“
Es macht mich so traurig. Ich möchte dieses unglückliche Menschenkind in den Arm nehmen und trösten. „Komm her!“, rufen die Erzieherinnen dem Mädchen zu. Es schaut sie an, aber es geht nicht zu ihnen.

Fünf Stunden lang weint das Mädchen. Dann wird es endlich abgeholt. „Wie war’s?“, fragt die Mutter die Erzieherin. „Ganz okay“, antwortet diese. „Sie hat zwanzig Minuten geschlafen.“

 

Nachsatz.

Wir haben nach diesem Erlebnis unsere neue Freundin Elinor  besucht, eine schwedische Mutter von vier Kindern, die ich sehr schätze. Sie hat die Hände über dem Kopf zusammen geschlagen und mir versichert, dass dies nicht (!) repräsentativ für eine schwedische Förskola sei. Sie selbst hat mit allen ihrer Kinder gute Erfahrungen gemacht, und ich glaube ihr.

Sie riet mir, nie wieder dort hinzugehen.
Nicht, dass ich das vorgehabt hätte.

G

 

Ein richtiges Kind

Morgen ist ein wichtiges Datum: Richards erster Tag in der Kita, hier „Förskola“ genannt. Wir haben einen Platz ergattert und eine Mail erhalten, in der steht: „Hej Richard, we can’t wait to meet you!“

Schon seit Wochen studiert er intensiv alle Bilderbücher zum Thema Kindergarten. Jetzt ist er bald „ein richtiges Kindergartenkind“, beziehungsweise, wie er selbst vereinfachend sagt: „Ein richtiges Kind.“

Und ich sitze am Vorabend mit flatterndem Herzen am Computer, ein bisschen melancholisch, ein bisschen besorgt, und versuche auf dem Informationsblatt für die Förskola in Worte zu fassen, was unseren Sohn ausmacht. Ob ich wohl die richtigen schwedischen Worte gefunden habe?

Ob er sich wohl fühlen wird? Ob er sich verständlich machen kann? Ob er Freunde finden wird?

Kleiner, großer Junge.

G

Kinder und Betrunkene

An einem dieser grauen Wintertage bin ich mit dem Doppel-Kinderwagen in der Innenstadt von Uppsala unterwegs. Beide Kinder sind eingeschlafen, endlich. Auch ich bin müde. Die Tage sind immer noch so wahnsinnig anstrengend.

Da höre ich die laute Stimme einer Frau. Die Menschen hier im Norden sind so ruhig und besonnen, dass eine laute Stimme sofort auffällt. Die Frau spricht ausschweifend auf einige Passanten ein, die nicht antworten, sich aber auch nicht abwenden. Höfliche Schweden! Hier darf jeder ausreden, egal mit wieviel Promille im Blut.

Betrunkene sind in Uppsala ein seltener Anblick. Spirituosen ab 3,5 Volumen-% gibt’s in Schweden nur in einem Spezialgeschäft namens Systembolaget, einem staatlichen Unternehmen. Alkoholische Getränke werden tüchtig besteuert und sind atemberaubend teuer. (Zum Glück brauchen wir keinen Alkohol zu unserem Glück!)

Während ich so sinniere, ändert die Frau ihren Kurs und steuert geradewegs auf mich zu. Ach nein, denke ich. Lass mich doch in Frieden. Ich hatte einen harten Tag und will nur, dass meine Ampel grün wird und ich meine Kinder nach hause schieben kann. Außerdem verstehe ich bestimmt sowieso nicht, was du sagen wirst.

Die Frau stellt sich vor mich, beugt sich zu den Kindern hinab und schaut in deren schlafende Gesichter. Ich starre sie an. Sie ist blond, etwa in meinem Alter und hat, das fällt mir jetzt auf, ein schelmisches, ziemlich sympathisches Gesicht. Irgendwas an ihr erinnert mich an James, den Butler aus „Dinner for One“.

Dann grinst die Frau mich an, schleudert ihren Arm zu einem ausdrucksvollen Kruzifix hin und her und brüllt fröhlich: „Gud välsigne er!“ Dreht sich um,  torkelt weiter und stolpert dabei über einen Tigerkopf. (Nein, das Letzte stimmt nicht.)

Meine Ampel wird grün. Ich gehe weiter. Meine Gedanken haben sich aufgehellt.  „Gud välsigne er“ heißt: Gott segne euch.

G