Phasenwechsel

Eines Tages sage ich zu meinem Sohn „Wasch dir bitte die Hände“, und es folgt kein Protest. Stattdessen ein tiefer Seufzer. Ein Moment Stille. „Na gut“. Als er aus dem Bad kommt, riechen seine Hände nach Seife.

Da weiß ich: Der Sturm hat sich gelegt.

Manchmal flackert er nochmal kurz auf, aber alles in allem ist der Große wieder ein genauso angenehmer, ausgeglichener Zeitgenosse wie vorher. Vielleicht noch ein bisschen reifer, mitdenkender. Er ist jetzt auch noch freundlicher zu seiner Schwester. Er lobt sie, wenn sie wieder mal ganz allein die Treppe hochgekrabbelt ist, oder den Lauflernwagen strahlend vor sich herschiebt. „Toll gemacht, Linnea!“ Das macht mich froh.

Im Kindergarten berichtet mir die Erzieherin von den Erlebnissen des Vormittags. Jedes Kind sollte sich nacheinander auf seinen Stuhl stellen und vor der ganzen Gruppe etwas sagen. Irgendetwas. Ein erster öffentlicher Auftritt, sozusagen. Unser Sohn stellte sich auf sein Stühlchen und sprach: „Min Mamma heter Gesina och min Pappa heter Volker!“ Die Erzieherin erzählt es mir voller Anerkennung: Es bereite ihm keine Schwierigkeiten, vor anderen zu sprechen. Schwedisch-bescheiden antworte ich: „Wie schön.“ Das ist, gemessen an meinen eigentlichen Empfindungen, sehr, sehr stark untertrieben.

Später am Nachmittag sind wir im Språkcafé. Vor einem Jahr habe ich hier meine ersten Sätze auf Schwedisch versucht. Mittlerweile kann ich mich flüssig unterhalten, suche noch gelegentlich nach der richtigen Präposition, aber im Großen und Ganzen fühle ich mich in der Sprache wohl. Die Kinder spielen in der Spielecke, ich bin in ein Gespräch vertieft, da höre ich den lauten Schrei meines Sohnes.

„Mama!“

„Was ist passiert?“

„Es schneit!!“

Raunend geht der Satz auf Schwedisch durch den Raum: „Det snöar!“, und alle Blicke gehen zum Fenster, wo sich dicke Flocken herabsenken: „Det snöar, det snöar!“

Draußen halten Richard und ich uns an den Händen, tanzen über den Parkplatz und singen „Es schneit, es schneit, kommt alle aus dem Haus,“ dann fahren wir los, um einen Schlitten zu kaufen, und es gibt  wieder nichts Schöneres, als einen Dreijährigen zu haben.

G

Krank auf Schwedisch

Alles fängt damit an, dass ich am Montag Nachmittag meinen Arbeitsplatz vorzeitig verlasse, um zum nahegelegenen Kindergarten unseres Sohnes zu fahren. „Um 15.30 Uhr ist Lichterfest“, hat meine Frau gesagt. Hieß das nicht letztes Jahr noch „Lucia-Fest“? frage ich mich draufhin. In diesem staatlichen Kindergarten wird offenbar jede auch nur entfernt religiöse Tradition durch Unverfängliches ersetzt.

Ich will mir die Sache trotzdem ansehen, meinem kleinen Richard und meiner lieben Frau eine Freude machen, und mehr oder weniger unangekündigt aufkreuzen. Kommt ja sonst fast nie vor, dass sich der vielbeschäftige Papa da mal blicken lässt.

Freudig entdecke ich draußen im Hof des Kindergartens eine Traube von ca. 30 Kindern mitsamt Erziehern und Eltern, die sich um kleine, auf dem Boden stehende, bunte Leuchten scharen. Mittendrin endlich meine drei Lieben. Linnea liegt eingekuschelt im Kinderwagen, hat von der Kälte rote Wangen und strahlt trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen. Meine liebe Frau steht hinter Richard. Der Kleine lehnt sich benommen an seine Mama. Ganz offensichtlich ist er angeschlagen, müde und krank.

Am Abend bemerkte ich dann selbst Schmerzen in Hals und Ohren. Normalerweise kündigt sich eine Erkältung bei mir immer über ein bis zwei Tage an, sie fragt sozusagen zurückhaltend „Hallo, passt es gerade, wenn ich jetzt komme?“, sodass ich meist noch ein Wörtchen mitreden kann und bestimmt auf das nächste anstehende Wochenende verweise, weil ich in der Woche ja noch „soooviel arbeiten muss“. Aber diesmal läuft es anders. Die Erkältung tritt einfach die Tür ein.

Am Dienstag Morgen wird mir die Ernsthaftigkeit meines spontanen grippalen Infektes bewusst, ich muss mich krankmelden. Irgendwie tue ich mich immer schwer mit solchen Krankmeldungen, schriftlich oder auch am Telefon. Aber jetzt gilt es. Ich brauche zum ersten Mal eine offizielle Krankmeldung des schwedischen Gesundheitssystems. Hier ist ja grundsätzlich alles anders, was Ärzte und Krankheiten betrifft. Vermutlich geht es ähnlich wie bei den schwedischen Fastfood-Restaurants: Man trifft seine Wahl an einer mit einem Touchscreen versehenen Box, steckt die EC-Karte rein, und holt sich sein Essen ab, ohne auch nur einmal mit einem menschlichen Wesen Kontakt zu haben.

Also, wo finde ich nun den Automaten, an dem ich meine Krankheit auswählen kann? – Da fällt mir ein, dass ich immer eine SMS auf mein Handy bekomme, wenn einer meiner Mitarbeiter krank ist. Nicht vom Mitarbeiter selbst, sondern von einem Gesundheitsdienstleister. In der SMS steht, ab wann (und manchmal bis wann) der Mitarbeiter krank ist, und noch eine Nummer, falls ich den Vorgang irgendwie nachverfolgen will.

Ich rufe also die Webseite dieses Anbieters im Internet auf, finde tatsächlich eine Telefonnummer und erfahre von einer automatischen Ansage, dass ich Nummer 16 in der Warteschlange bin. Ich hinterlasse meine Telefonnummer, um zurückgerufen zu werden. Bald kommt der Rückruf, und eine Frau fragt kühl nach meiner Personennummer. Ich sage ihr die 10-stellige Nummer. Daraufhin liest sie mir vor, wo ich arbeite und fragt wie meine Chefin heißt. „Korrekt?“ „Korrekt.“ Ich bin wieder einmal beeindruckt, was die Schweden so alles über mich wissen.

Ich sage, dass ich krank bin. Eine Erkältung habe. Die Frau wechselt wie auf Knopfdruck den Tonfall. Fürsorgliche, fast mütterlich-beschützend fragt sie mich: „Wie fühlst du dich?“ und „Soll dich eine Krankenschwester zurückrufen?“ Nicht nötig. Ist ja nur eine Erkältung.

„Gut“, sagt sie. „Ruf bitte wieder an, wenn du gesund bist.“ Sie beendet das Gespräch freundlich mit den Worten „Ta hand om dig!“, ein Ausdruck, den ich gerne mag, und den man gar nicht so einfach ins Deutsche übersetzen kann. „Pass auf dich auf“ trifft es nicht ganz, besser ist: „Halte deine Hände über dich, damit sie dich schützen.“ Ich freue mich über dieses Abschiedsgruß, auch wenn ich weiß, dass es letztendlich nicht meine eigenen, sondern die Hände eines Anderen, viel größeren sind, die auf mich Acht geben.

Noch während des Gesprächs vibriert mein Smartphone und zeigt mir eine von diesen SMS an, die ich immer bekomme, wenn einer meiner Mitarbeiter krank ist. Diesmal als Info, dass meine Chefin informiert wurde. Geschafft: Ich habe mich offiziell auf Schwedisch krankschreiben lassen!

Was folgt, sind einige Tage zuhause, Tee trinkend, schlafend, genesend. Meine Frau habe ich bald darauf angesteckt, was uns einige erstaunlich schöne, gemeinsame Krankheitstage mit ganz wesentlichen, im wahrsten Sinne des Wortes sinnvollen gemeinsamen Gesprächen beschert. Vielleicht habe ich genau das gebraucht. Es ist heilsam, zu merken, dass „die Arbeit“ auch ohne mich auskommt und dass auch ein vermeintliches Unproduktiv-Sein wertvoll sein kann.

Mehr davon!

V.

 

WM-Qualifikation

Bild: www.sportschau.de

Gestern Abend hat die schwedische Nationalmannschaft kein Tor geschossen.

Das allein wäre noch keine Nachricht wert.

Wenn sie nicht dadurch Italien aus der WM-Qualifikation gekickt hätte. Denn nach dem 1:0 in der Hinrunde hätten die Italiener einen Sieg gebraucht, um bei der WM  2018 dabei zu sein.

Es gab wohl kaum einen Schweden, der die beiden Spiele nicht verfolgt hätte. (Nur wir sind aus aktuellem Anlass – siehe „Der Sturm“ – lieber früh schlafen gegangen.)

Autokorsos und Jubelgeschrei gibt es hierzulande natürlich nicht. Somit bekam ich das Ergebnis erst am nächsten Morgen im schwedischen Radio mit:

„Herzlichen Glückwunsch, Schweden! (Und, ohne Ironie): Wie schade für Italien. Andererseits – die durften bis auf 1958 jede WM mitspielen. Da darf man auch einmal aussetzen. Liebe Autofahrer, wenn ihr heute einem FIAT begegnet: Lasst ihm die Vorfahrt.“

G

Der Sturm

DER STURM (Shakespeare) am Frankfurter Schauspielhaus 2016
Regie: Andreas Kriegenburg
Foto: Birgit Hupfeld

 

Erinnert sich noch jemand an den kleinen, lieben Jungen, mit dem wir nach Schweden ausgewandert sind? Ausgeglichen, in sich ruhend, gutgelaunt? Ich selbst habe ihn schon länger nicht mehr gesehen. In den letzten Wochen ist nämlich ein Monster bei uns eingezogen. Das Monster heißt: „Trotzphase“.

Woher kommt plötzlich diese absolute Unfähigkeit unseres Dreijährigen, seine Gefühle zu kontrollieren? Warum muss jede Regel, die unser Zusammenleben als Familie ordnet, infrage gestellt werden?

Hände waschen vor dem Essen. Schuhe ausziehen nach dem Draußenspielen. Wir sprechen mit unserer freundlichen Stimme. Wir hauen nicht.

Warum muss jeder winzige Konflikt eskalieren und in Toben, Kreischen und Irgendwas-Griffbereites-aufs-Parkett-Schmeißen enden?

Ich hasse es, schon morgens vorm Frühstück angeschrien zu werden. Ich hasse es, wenn der Große seine Wut an der Kleinen auslässt.
Ich hasse es, wenn wir am Ende alle Drei brüllen.

Im Vorbeigehen lese ich den Satz: „Leben heißt nicht zu warten, bis der Sturm vorüberzieht, sondern zu lernen, im Regen zu tanzen.“

Das ist Blödsinn. (Entschuldigung, meine Kapazität, differenziert zu denken, ist heute Abend gleich Null.)

„Trotzphase“ heißt, zu warten, dass der Sturm vorüberzieht. Und abends, wenn das Trotzphasen-Kind endlich schläft, die eigenen Gefühle irgendwie zu verarbeiten und nicht am Ehemann auszulassen.

Und nun zu heute.
Ein miesepetriger Herbsttag, eine gerade überstandene Grippe, und als wären die Vorzeichen noch nicht schlecht genug, kriegt die Kleine Zähne. Wir fahren mit dem Bus zur Bibliothek. Ein gutes Buch wird mir guttun, denke ich, und meinem Sohn auch.

Noch ehe wir uns irgendetwas ausleihen können, müssen wir unter  verstohlen vorwurfsvollen Blicken wieder rausgehen: Die Kleine brüllt vor Zahnschmerzen. Ich ziehe den Kindern die Winterklamotten wieder an und haste nach draußen. Die Mütze vom Großen ist weg, die hat er irgendwo in den Gängen verloren. Noch ein Spießrutenlauf, noch einmal einmal wird die Bibliothek von uns beschallt. Bei Minusgraden sitzen wir dann vor der Bibliothek auf einer Parkbank und ich stille das Baby, weil nur das hilft. Der Große quengelt: „Du musst mir eine Geschichte erzählen!“

Er konnte schon ganz früh „Bitte“ und „Danke“ sagen, fällt mir ein. Das war schön. Bitte und Danke sind für mich Schmiermittel der Kommunikation, die Türen öffnen und nicht zuletzt aus Konflikten die Schärfe herausnehmen.
Aber in der Trotzphase geht es ja gerade um Eskalation.

Die Kleine brüllt weiter. Sie holt tief Luft und schreit dann, so laut sie kann. Es fetzt einem die Ohren weg. Ich überlege, mitten am Nachmittag meinen Mann anzurufen. „Hol uns bei der Bibliothek ab. Bitte. Ich kann mit diesen Kindern zurzeit keinen Bus betreten.“

Wir betreten den Bus, und es wird genauso schlimm wie befürchtet. Ich sitze gegen die Fahrtrichtung. Alle anderen Gesichter schauen mich an. Fahrgäste, die zwischenzeitlich aussteigen, atmen draußen sichtbar auf.

Wir kommen nach hause, es folgt  der Kampf ums Schuhe-ausziehen, ich koche Abendessen, in mir tobt es. Wenn ich jetzt meinen Frust nicht loswerde, lasse ich ihn an den Kindern aus, oder zerschmeiße Porzellan.

Aus dem Zimmer meines Bruders drang nach der Schule ohrenbetäubende Musik, fällt mir ein. – Das probiere ich. Ich greife mir eine CD aus meiner Jugend, aus der Zeit vor Mann und Kindern, und stelle die Lautstärke auf ohrenbetäubend. (Die Kinder sind im Wohnzimmer.) Es hilft ein wenig. Am Ende fühlt es sich fast wie Tanzen an.

Den Rest meines Frusts kriegt Vater Abraham ab, als ich ihm beim Abendessen das ganze Elend berichte. „Ich bin heute abend nicht offen für Kritik“, sage ich. „Verbesserungsvorschläge bitte erst morgen – dann kann ich mich denen wieder stellen.“

Ich weiß, dass mein Dreijähriger unter dem Gefühlsgewitter genauso leidet wie ich, wahrscheinlich noch mehr. Ich weiß, dass irgendwo vielleicht eine Stellschraube locker ist, die ich eventuell noch finden werde.

Aber heute habe ich für mich kein abmilderndes Fazit.

Trotzphase ist ätzend. Es gibt keinen leichten Weg dran vorbei. Ich trotze dem täglich neuen Sturm mit all meiner Kraft, mit dem letzten bisschen Liebe und Langmut, das ich aufbringen kann, auch wenn es nie reicht, und hoffe, dass das Gewitter irgendwann vorbeizieht.

G

 

Fieber

Mit dem ersten Frost kommt die Erkältungswelle. Obwohl ich meine, dass wir insgesamt ziemlich selten erkältet sind – die saubere Luft und die geringe Menschendichte mögen daran teilhaben, ich weiß es nicht – sind wir diesmal alle nacheinander krank geworden.

Vater Abraham macht den Anfang, die Kinder folgen auf dem Fuße.  Ich lege ihnen die Hand auf die Stirn: Sie glühen. Meine Mutter konnte damals mit ihrer Handfläche aufs Zehntelgrad genau unsere Temperatur messen, fällt mir ein. Ob ich das später auch mal kann? Bisher hatte ich noch nicht ausreichend Gelegenheit zum Üben.

Das Fieberthermometer? Kaputt. Stimmt, da hat die Kleine neulich drauf rumgekaut. Kurz überlege ich, ob ich den Großen dazu überreden kann, das Braten-Thermometer in den Mund zu nehmen. Verwerfe den Gedanken sofort.

In Schweden haben die meisten Geschäfte auch Sonn- und Feiertags durchgängig geöffnet, mit einer kuriosen Ausnahme: Man kann im ganzen Land von Samstagnachmittag bis Montagfrüh keinen Tropfen Alkohol kaufen. Abgesehen davon ist Shoppen in Schweden ein klassisches Sonntagsvergnügen. Da hat man ja Zeit.

Bislang haben wir es geschafft, uns treu zu bleiben und am Sonntag nichts zu kaufen. Ich habe das so im Blut, dass ich ganz erstaunt bin über die Vehemenz, mit der unsere schwedischen Bekannten darauf beharren: „Was soll man denn machen, wenn einem Samstag Abends die Milch ausgeht?“

Ich persönlich komme mit frühzeitigem Nachkaufen und Vorratshaltung von Hafermilch gut zurecht. Trinke meinen Kaffee aber ohnehin schwarz. „Sonntags einkaufen“ war für mich bislang jedenfalls keine Option.

Heute allerdings fahre ich tatsächlich los und kaufe am Sonntag… ein Fieberthermometer!

40 Grad. Wusste ich’s doch.
Gut, dass ich Fieberzäpfchen im Vorrat habe.

Wir bauen das Ehebett zur Krankenstation um. An den Seiten mit aufgestellten Matratzen flankiert, damit keiner fiebernd rausfällt, liegt rechts und links ein krankes Kind und ich in der Mitte. Vater Abraham wandert aufs Sofa aus. Es reicht, wenn sich einer von uns die Nächte um die Ohren schlägt. Mein Mann übernimmt dafür die Kinderbetreuung von 5 bis 7 Uhr morgens, da kann ich nochmal 2 Stunden am Stück schlafen.

Als nach ein paar Tagen das Fieber weicht und der Große wieder zur Förskola kann, werde ich als letzte auch noch krank. Jetzt ist warme Milch mit Honig angesagt. Zum Glück habe ich grad welche da.

G

Die Katze im Sack

Dieser Blog-Eintrag ist überfällig. Zum einen, weil die Anfänge der Geschichte schon 3 Monate zurück liegen. Zum anderen, weil mich immer wieder Leute gefragt haben, wie es mit unserer neuen Förskola (Kindergarten), die ich damals „Katze im Sack“ genannt habe, weitergegangen ist. Manche Geschichten schreiben sich leichter, wenn man das Ende kennt. Heute schreibe ich sie also.

„Die Eingewöhnung in unserer Förskola dauert für gewöhlich 2 Wochen“, sagt die Erzieherin beim Vorgespräch zu mir. „Mal kürzer, mal länger.“

Ich bin froh über dieses Vorgespräch. Es hilft mir, meine Skepsis gegenüber der neuen Förskola zu überwinden. Zuerst möchte die Erzieherin, dass ich meinen Sohn beschreibe. Womit spielt er gern, was interessiert ihn? Wie äußert er, wenn er unglücklich ist, und was tröstet ihn?

Je länger das Gespräch dauert, desto mehr merke ich: Heute geht es weniger um mein Kind, als um mich. „Wie geht es dir damit, dass Rickard in die Förskola kommt? Glaubst du, dass es einfach wird?“

Nein. Ehrlich gesagt, glaube ich das nicht.

Letztes Jahr, ja. Da war er daran gewöhnt, Zeit ohne mich zu verbringen: bei den Großeltern, mit den Nachbarskindern, der Babysitterin. Aber jetzt sind wir seit einem Jahr im Ausland. Von den nahen Bezugspersonen sind im Alltag nur Mama und Papa übrig gebliebenen. Ich bin es, die mit den Kindern auf den Spielplatz geht, zum Einkaufen, überallhin. Ich backe Brot, mache die Wäsche, räume auf, und währenddessen ist er entweder dabei oder verteilt seine Matchbox-Autos im ganzen Haus.  Ich kann mich darauf verlassen: Er geht nicht ohne mich weg. Und er weiß dasselbe von mir. Der Satz „Ich gehe ohne dich“ ist allenfalls eine leere Drohung.

Und jetzt soll ich auf einmal ohne ihn weggehen? – Nein, ich glaube nicht, dass das einfach wird.

Dann hat die Erzieherin noch eine Neuigkeit für mich. „Komischer Zufall“, sagt sie: „In Rickards Gruppe gibt es dieses Jahr noch drei weitere Kinder, die Deutsch sprechen.“ – Ich muss daran denken, wie ich im Vorfeld für die neue Förskola gebetet habe.

Die Eingewöhnung beginnt. Zwei Wochen lang soll ich meinen Sohn ununterbrochen begleiten, von 9 bis 14 Uhr: Morgens draußen auf dem Spielgelände, später drinnen im Singkreis, beim Mittagessen, beim freien Spiel zwischen Lego-Ecke, Tobe-, Bastel- und Ruheraum.

30 Kinder und 7 Pädagogen, davon knapp die Hälfte Männer. Hinzu kommen 2 schwerbehinderte Mädchen mit eigenen Betreuerinnen. Ich finde die Anzahl der Kinder zuerst ganz schön hoch. Schnell merke ich aber: Die Pädagogen achten immer darauf, dass kleine Gruppen entstehen. Rafael sitzt mit vier Jungs in der Legoecke, Saga verteilt im Atelier Farben und achtet darauf, dass jeder einen Malkittel anzieht, Karin liest eine Geschichte vor. Überall herrscht eine ruhige, harmonische Atmosphäre. Gefällt mir.

Alle Pädagogen begrüßen Richard im Laufe des Tages und stellen ihm viele freundliche Fragen auf Schwedisch. Einer Sprache, die er mittlerweile ein wenig versteht, aber von sich aus kaum spricht. Genau wie ich am Anfang auch, fühlt er sich unsicher, wenn man ihn anspricht, und versucht, sich elegant aus Gesprächen herauszuhalten.

Seine Strategie: Alle Fragen, die er nicht versteht, beantwortet er mit „Ja“. Damit kommt er erstaunlich weit. Das liegt wohl an der Natur der Fragen, die man kleinen Kindern üblicherweise stellt:

„Na, alles klar?“
Ja.
„Fährst du gerade Dreirad?“
Ja.
„Macht das Spaß?“
Ja.

Mit einem unbestimmten „Ja“ vermeidet man Nachfragen. Und Konflikte. Klug.

Gleichzeitig mit meinem Sohn werden noch andere Kinder eingeschult. Nach 2 Tagen dürfen die anderen Mütter für eine halbe Stunde rausgehen, Kaffee trinken. Ich nicht.

Nach einer Woche sind die anderen Kinder eingewöhnt. Meines nicht. Auch nach 2 Wochen nicht.

Ich merke, wie anstrengend die 5 Stunden Kindergarten für meinen Dreijährigen sind. Oft schläft er hinterher lange, manchmal ist er furchtbar schlecht gelaunt. Manchmal bin ich es auch, schließlich sitze ich jeden Tag 5 Stunden auf dem Fußboden rum. Mitsamt meinem Krabbelkind, das ja immer dabei ist. Unser Haushalt liegt brach, ich führe mit meinem schlechten Gewissen Diskussionen, die zu nichts führen:

„Wie sieht es denn hier aus?!“
„Wann sollte ich das denn bitte aufräumen, nachts?“

Langsam, ganz langsam taut mein Sohn in der Förskola auf. Beobachtet genau, und fasst Vertrauen zu einzelnen Pädagogen. Er spricht mit ihnen und leitet von ihrer Reaktion ab, dass sie ihn nicht verstehen. Sich aber bemühen. Dass niemand frustriert ist über die misslungene Kommunikation, oder über ihn. Noch immer braucht er meine Anwesenheit. Die Mama auf den Fußboden als Übersetzerin, Erklärerin, Rückzugsraum.

Mein erster Versuch, für eine halbe Stunde rauszugehen, wird abgebrochen. Er wird hysterisch, panisch. Ein paar Tage später werde ich wieder rausgeschickt, sitze heulend vorm Kindergarten. Er sitzt heulend drinnen.

Nach 2 Wochen schlägt eine der Erzieherinnen vor, wir müssten jetzt durchgreifen. Ich sollte einfach nach hause gehen und meinen Sohn  dalassen. Er werde sich schon fangen.

Ich kann nicht. Die Erzieherin und ich diskutieren. Freundlich, schwedisch, zwischen den Zeilen.  Ich sage: „Ich habe den Eindruck, er ist noch nicht bereit. Außerdem würde es ihm, glaube ich, guttun, wenn er eine feste Bezugsperson hätte.“ Sie sagt: „Na gut. Es soll sich ja für dich richtig anfühlen.“ Durch die schwedische Diskussionskultur gewinne ich nochmal zwei Tage und eine feste Betreuerin.

Es braucht einfach Zeit, Menschen zu vertrauen, deren Sprache man nicht versteht. Darauf zu bauen, dass man sich um einen kümmern wird, wenn man Hilfe braucht, auch wenn man sein Bedürfnis nicht erklären kann. Neue Routinen zu befolgen, wenn man die dazugehörigen Kommandos nicht kennt. („Nu är de dags att städa!“ Aha, Aufräum-Zeit.)
Es braucht Zeit, Mama gehen zu lassen.

Ich wünschte, ich hätte diese gelassene Zuversicht damals schon gehabt. In Wirklichkeit habe ich mich nämlich im Stillen gefragt: Liegt es an mir? Warum klammert mein Kind so? Soll ich eine andere Förskola suchen? Und wäre nicht alles einfacher, wenn wir in Deutschland …“

Dreieinhalb Wochen sitze ich auf dem Kindergarten-Fußboden. Da passiert es:  Ich fühle mich plötzlich überflüssig. Mein Sohn spielt zwischen den anderen Kindern, kommuniziert ein deutsch-schwedisches Mischmasch mit den Erziehern, das funktioniert. Gelegentlich schaut er nach mir, ob ich noch da bin.

„Kann ich morgen ohne dich nach hause gehen?“, frage ich ihn am Abend. „Ja“, antwortet er.

Seitdem geht er jeden Morgen fröhlich zur Förskola.

G