Kinder und Betrunkene

An einem dieser grauen Wintertage bin ich mit dem Doppel-Kinderwagen in der Innenstadt von Uppsala unterwegs. Beide Kinder sind eingeschlafen, endlich. Auch ich bin müde. Die Tage sind immer noch so wahnsinnig anstrengend.

Da höre ich die laute Stimme einer Frau. Die Menschen hier im Norden sind so ruhig und besonnen, dass eine laute Stimme sofort auffällt. Die Frau spricht ausschweifend auf einige Passanten ein, die nicht antworten, sich aber auch nicht abwenden. Höfliche Schweden! Hier darf jeder ausreden, egal mit wieviel Promille im Blut.

Betrunkene sind in Uppsala ein seltener Anblick. Spirituosen ab 3,5 Volumen-% gibt’s in Schweden nur in einem Spezialgeschäft namens Systembolaget, einem staatlichen Unternehmen. Alkoholische Getränke werden tüchtig besteuert und sind atemberaubend teuer. (Zum Glück brauchen wir keinen Alkohol zu unserem Glück!)

Während ich so sinniere, ändert die Frau ihren Kurs und steuert geradewegs auf mich zu. Ach nein, denke ich. Lass mich doch in Frieden. Ich hatte einen harten Tag und will nur, dass meine Ampel grün wird und ich meine Kinder nach hause schieben kann. Außerdem verstehe ich bestimmt sowieso nicht, was du sagen wirst.

Die Frau stellt sich vor mich, beugt sich zu den Kindern hinab und schaut in deren schlafende Gesichter. Ich starre sie an. Sie ist blond, etwa in meinem Alter und hat, das fällt mir jetzt auf, ein schelmisches, ziemlich sympathisches Gesicht. Irgendwas an ihr erinnert mich an James, den Butler aus „Dinner for One“.

Dann grinst die Frau mich an, schleudert ihren Arm zu einem ausdrucksvollen Kruzifix hin und her und brüllt fröhlich: „Gud välsigne er!“ Dreht sich um,  torkelt weiter und stolpert dabei über einen Tigerkopf. (Nein, das Letzte stimmt nicht.)

Meine Ampel wird grün. Ich gehe weiter. Meine Gedanken haben sich aufgehellt.  „Gud välsigne er“ heißt: Gott segne euch.

G

Be Mey Guest

Heute soll ein schöner Tag werden, denke ich mir beim Aufstehen.

Es ist ein warmer, fast frühlinghafter 23. Januar. In Deutschland herrscht strenger Frost, und ich sitze bei plus 7 Grad auf dem Spielplatz und schaue meiner Schlittenbahn beim Auftauen zu.

Ich würde gern jemanden auf ein Stück Kuchen einladen. Mir fallen ohne langes Nachdenken zwei Dutzend liebe Menschen ein, mit denen ich gern auf eine Kanne Kaffee oder Tee zusammen säße. Aber die sind alle mindestens 1000 km weit entfernt.

In diesen anstrengenden Wochen, mit einem schreienden Baby und einem weltentdeckenden Zweijährigen, vermisse ich meine Leute besonders. Wie schön wäre das, mit jemandem in Ruhe darüber zu plaudern, wie sich diese besondere Lebenssituation anfühlt: zwischen wortlosem Staunen, Innigkeit, ständiger Gleichzeitigkeit, Überforderung und Wahnsinn.

Es kommt kein Besuch. Kein Grund, nicht trotzdem einen Kuchen zu backen. In Gedanken lade ich alle ein!

Um diesem Tag eine besondere Note zu geben, verkünde ich meinem Sohn: „Heute darf Mama die Musik aussuchen.“ Pippi Langstrumpf hat Pause. Heute hören wir Reinhard Mey.  Der Knirps ist nicht begeistert und tauscht zweimal heimlich die CD aus, während ich im Nebenzimmer am Wickeltisch stehe. Ich tausche sie ebensooft wieder zurück.

Ich habe eine Aufnahme eines Live-Konzertes von 1986 gegriffen. In dieser Zeit war Reihnard Mey ein junger Vater und hat, wie ich finde, seine schönsten Lieder geschrieben: musikalische Geschichten über seine kleinen Kinder. Mein Apfelbäumchen. Menschenjunges. Keine ruhige Minute.

Als sie dann erklingen, diese feinsinnigen, verschmitzten Lieder, da habe ich das Gefühl, dass Reinhard sich zu uns in die Küche setzt. Er stört sich kein bisschen an der Unordnung. War bei ihm damals wohl auch nicht anders, wie er singt:

„Ich hab‘ längst aufgehört, um meine Aussteuer zu zittern,
dich hält nun mal nichts auf, kein Drohen und kein guter Rat.
Heut‘ fehlt mir etwas, höre ich nichts donnern, klirr‘n und splittern,
und ein Tag ohne Trümmer scheint mir langweilig und fad.
Und abends lieb‘ ich es, auf deinen Murmeln auszugleiten,
die Prellungen und dein Gelächter nehm‘ ich gern in Kauf.
Ich brauch dein Durcheinander, denn eins ist nicht zu bestreiten:
In deinem Chaos fällt meine Unordnung nicht mehr auf.“

(aus: „Ich frag mich seit ner Weile schon„)

„Das Haus fing doch erst an zu leben,
Seit dein Krakeelen es durchdringt,
Seit Türen knall‘n, und Flure beben
Und jemand drin „Laterne“ singt.
Früher hab‘ ich alter Banause
Möbel verrückt, verstellt, gedreht,
Ein Haus wird doch erst ein Zuhause,
Wenn eine Wiege darin steht!

Keine ruhige Minute
Ist seitdem mehr für mich drin.
Und das geht so, wie ich vermute,
Bis ich hundert Jahre bin!“

(aus: „Keine ruhige Minute“)

G

Geheimnis au Chocolat

Unglaublich: Heute haben wir ein ausgewechseltes Baby. Die Kleine liegt entspannt in ihrem Bettchen und schläft. Trinkt zufrieden und schläft weiter. Wacht auf und lächelt uns an. Wie gut das tut!

Vielleicht ist das ihr Geburtstagsgeschenk an ihren Vater.

Mein Geschenk: Ich habe den gestrigen Tag in der Küche verbracht und für meinen Mann ein besonderes Essen vorbereitet. Seinen Lieblingskuchen gebacken. Und weil er immer wieder angemerkt hat, dass man in Schweden einfach kein vernünftiges Mousse au Chocolat bekommt, habe ich selbst welches gemacht. Mit Hilfe eines glänzend gelaunten 2-Jährigen.

Dann habe ich alle verräterischen Spuren der Koch- und Backorgie beseitigt, alle Schüsseln gespült, zuletzt dem Sohn den Schokoladenmund abgewaschen und die Küche gelüftet. Mein Geheimnis war tadellos geheim.

Kurz darauf beim Abendessen: „Papa, morgen hast du Deburtstag! Da dibt’s Tuchen!“

Ich tue so, als hätte ich nichts gehört. Volker ist so höflich und tut dasselbe. Vielleicht lässt unser Sohn das Thema von selbst fallen.

„Apfeltuchen!“

Na gut, denke ich, vermutlich hat Volker ohnehin damit gerechnet. Zumindest ahnt er nichts von meinem Spezial-Dessert…

„Und ßodoladen-Mousse!“

Und dann freut er sich wie ein Schneekönig, dass es ihm gelungen ist, Mama und Papa ordentlich zum Lachen zu bringen.

Happy Birthday, Vater Abraham!

G

Barmherzigkeit

Auf „Abrahams-Inn“ ist nichts los. Wer jetzt denkt, dass Mutter und Vater Abraham mit einer Tasse Tee im Kerzenschein sitzen und gedankenverloren zum Fenster in den glitzernden Schnee hinausschauen, liegt falsch. Mit der Ruhe ist es vorbei, der Schnee ist geschmolzen und Kerzen werden schon aus Prinzip nicht mehr angezündet. Ich weiß nie, ob ich in den nächsten Stunden wieder an der Kerze vorbei komme. Oder in einer Endlosschleife zwischen Wickeltisch und Stillsessel  lande.

Linnea ist jetzt 5 Wochen alt, hat anderthalb Kilo zugenommen, ist 5 cm gewachsen und entwickelt sich richtig gut. Aus den allerkleinsten Babysachen ist sie schon rausgewachsen, und ich freue mich, zu sehen, wie sie langsam in die ersten Geschenke reinwächst.

Leider hat sie sehr oft Bauchschmerzen und weint viel und lange. Ich muss all meinen Erfindungsgeist aktivieren, um dann herauszufinden, was ihr hilft. Herumtragen im Tragetuch? In Bauchlage schaukeln? Bauch massieren? Oder einfach trösten und liebhaben?

Gestern habe ich ihr ein Mobilé gebaut. Das lenkt sie ab und sie schaut fasziniert zu, wie es sich dreht und in den Sonnenstrahlen glitzert. Die wunderschöne Papierkunst – eigentlich für den Weihnachtsbaum gedacht – habe ich vor einigen Jahren von meiner lieben Trauzeugin geschenkt bekommen.

 

Vor lauter Bauchschmerzen und Geschrei bleibt keine ruhige Minute für andere Dinge. Der Große, der Ehemann, der Haushalt, Essen, Schlafen – alles kommt zu kurz. Volker schleicht morgens gegen sieben aus dem Haus und kommt 12 Stunden später wieder. Nach dem Abendessen arbeitet er im Keller am Laptop weiter.

Das Chaos nimmt zu. Meine Resilienz nimmt ab. Ich bin müde, will meinen funktionierenden Haushalt wieder, wünsche mir Ruhe, um mich zu organisieren, werde dünnhäutig, reizbar.

Da entdecke ich heute einen Bibelvers, der mich ganz persönlich anspricht: „Barmherzig und gnädig ist der HERR, geduldig und von großer Güte.“ (Psalm 103,8)

Mir fällt ein Lied ein, das diesen Vers aufgreift. „Barmherzig, geduldig und gnädig ist er; viel mehr, als ein Vater es kann…“ – Ich habe dieses Lied nie gemocht. Es schien mir unfair meinem eigenen Vater gegenüber, der bei diesem Lied im Vergleich schlecht wegkommt. (Mein Vater ist nämlich ein sehr barmherziger, geduldiger und gnädiger Mensch.)

Heute beginne ich das Lied zum ersten Mal zu verstehen. Ich selbst bin zurzeit oft so unbarmherzig. Ungeduldig. Ungnädig.

Heute setze ich in dieses Lied mich selbst ein. „Barmherzig, geduldig und gnädig ist Gott, viel mehr als ich es kann.“ Da freue ich mich über Gott, der so barmherzig ist. Auch mit mir.

Als später am Abend das Essen im Ofen in Flammen aufgeht, die Kleine schreit und der Große vor Wut seine Autos auf den Küchenboden schmeißt, da gelingt es mir, die Nerven zu behalten, und ich fange einfach an zu singen: „Vergiss nicht zu danken dem ewigen Herrn, er hat dir viel Gutes getan. Barmherzig, geduldig und gnädig ist er…“

Da kann ich inmitten des Chaos’ den zornigen Großen in den Arm nehmen. Die Kleine hört auf zu Weinen. Das Essen kommt halt verbrannt auf den Tisch. Haute Cuisine ist heute nicht dran. Mein Lehrmeister will mir heute was anderes beibringen, glaube ich.

G

Heimatgefühle

Zwei Wochen Deutschland gehen zuende. Bald steigen wir wieder in den Flieger Richtung Norden. Wir gehen nicht ohne Wehmut. Deutschland, deine Bäckereien! Deine Sonnenstunden! Deine Sprache, die uns so leicht über die Lippen geht! Vor allem: all die lieben Menschen hier, die wir am liebsten im Koffer durch den Zoll schmuggeln und mitnehmen würden!

Stattdessen haben wir Schwarzbrot, Grafschafter Goldsaft (Sirup) und Mandelmus im Gepäck. Deutschland, dein Mandelmus!

G

„Stille“ Nacht

Ich frage mich, wie jemand die  Geschichte eines neugeborenen Kindes ernsthaft mit „Stille Nacht“ betiteln konnte…

„Schlaf in himmlischer Ruh“ ist Wunschdenken.

„Einmal werden wir noch wach“ ist Illusion.

Müde, von Chaos umgeben, mit einem von Bauchschmerzen geplagten Neugeborenen und einem 2-Jährigen, der sich mit Recht zu wenig beachtet fühlt, ringe ich um Fassung und Konzentration, um bei Kofferpacken nicht die Hälfte zu vergessen.

Die kürzesten Tage des Jahres. Die Sonne geht um 9 Uhr auf und um 14.50 Uhr unter. Sie steht so tief am Himmel, dass sie nur für eine gute Stunde überhaupt über die Häuser und Baumwipfel hinweg steigt.

In dieser Stunde packe ich die Kleine ins Tragetuch und den Großen in den Buggy; so beladen laufen wir im flüchtigen Sonnenlicht zum ICA, unserem schwedischen Tante-Emma-Laden. Die Schatten sind meterlang. Auf dem Rückweg knabbern wir Pfefferkuchen und treffen eine Frau aus der Krabbelgruppe, die uns „God Jul“ wünscht, Frohe Weihnachten.

Dieses Jahr wird Weihnachten nicht wie „alle Jahre wieder“. Aber ich möchte es nicht anders haben. Das größte Geschenk kam diesmal schon 2 Wochen vor Heiligabend.

 G

Von Booten, Botschaft und deutscher Pünktlichkeit

Knapp eine Woche nach Linneas Geburt ist es Zeit für ein erstes Abenteuer. Richard ist bereits am Vorabend aufgeregt und sagt beim Abendessen: „Wir fahren in die grooooße Stadt Stockholm“, er zeichnet bei dem Wort „groooße“ einen Kreis mit seinen Händen in die Luft. Recht hat er: Wir wollen über Weihnachten nach Deutschland, mit dem Flugzeug, und dafür brauchen wir für Linnea ein Ausweisdokument.

Mit dem dafür nötigen offiziellen Papierkram, einem biometrischen Passfoto unserer neugeborenen Tochter und ausreichend Reiseproviant geht es morgens vor Sonnenaufgang los, nachdem Richard und ich, mittlerweile Profis, unser Auto von Schnee, Eis und Eisblumen befreit haben.

Unser Ziel: Die Deutsche Botschaft in Stockholm. Und zwar pünktlich um 9.20 Uhr, sonst wird das nichts mit dem Fliegen. Während der Fahrt brechen langsam die ersten rosafarbenen Lichtstrahlen durch den weiten, schneeschwangeren  Himmel, unsere Straße wird flankiert von endlosen weißen Nadelbäumen. Die beiden Kinder auf der Rücksitzbank machen sich prächtig. Linnea schläft, Richard singt, wir Eltern können uns synchronisieren.

Das Navi führt uns einmal komplett durch Stockholm durch. Die ganze Stadt leuchtet in weihnachtlichem Festgewand. Nur der Berufsverkehr stört etwas, denn: Wir müssen ja pünktlich sein. Wo, wenn nicht bei der Deutschen Botschaft!

Copyright: Henrik Trygg

Stockholm liegt auf 14 Inseln und besteht zu 30% aus Wasser. Links und rechts sehen wir Häfen und Boote, Richard ist begeistert. Als aktueller Fan von Doppeldeckerbussen faszinieren ihn besonders die zweistöckigen Boote, Doppeldeckerboote eben. Aber unser Ziel ist ja die Botschaft, nicht die Boote.

Stau. Und nur noch 20 Minuten bis zu unserem Termin. Gesina betet lautlos. Kurz darauf fangen die Glocken an zu läuten. Irgendwie werde ich von einem tiefen Vertrauen durchdrungen, dass wir es schaffen werden und kann den ein oder anderen Blick nach links und rechts in die weihnachtlich-funkelnden Gassen genießen, während der Verkehr im Schritttempo vorangeht.

Bald darauf biegen wir ins neu erbaute, steril-kühle Botschaftsviertel ein. Beschilderung ist Fehlanzeige, alles eher inkognito. Wir passieren die Hausnummer, an der die Deutsche Botschaft sein soll. Auf dem Dach des weißgrauen Kastens weht eine weiße Flagge mit einem großen roten Punkt in der Mitte.  Sollte sich Deutschland in den letzten drei Monaten so sehr verändert haben?

Dann, zur linken Hand, ein kleiner Parkplatz. Ein kleines Schild sagt in kleiner Schriftgröße „Nur für Gäste der Deutschen Botschaft“. Klasse, das sind wir; zumindest unser Auto hat seinen Platz gefunden.

Jetzt zu Fuß, zwei Kinder auf dem Arm, geht es weiter auf der Suche nach der Botschaft. Endlich finden wir sie. In einer Sicherheitsschleuse müssen wir alle Habseligkeiten bis auf Kinder und Dokumente in ein zu kleines Schließfach quetschen. Alles ist vergittert, die schweren Türen bewegen sich nur langsam, das Personal versteckt sich hinter Panzerglas und kommuniziert nur über Gegensprechanlage. Eine Woche nach der Geburt befinden wir uns schon wieder in einer Art Isolierstation. Durch einen Metalldetektor hindurch, auf zum nächsten Gebäudetrakt. Ein Blick auf die Uhr: Es ist Punkt 9.20 Uhr. Wir sind da! Alle Papiere stimmen, die Fotos sind biometrisch genug, Unterschrift hier, Stempel da, Bezahlen dort – und fertig. Geschafft!

Ich bin froh und dankbar über dieses Erfolgserlebnis mit meiner kleinen Familie, mache meiner Frau und meinen beiden Kindern im Geiste ein Riesenkompliment und freue mich auf einen schönen Mittag in einem netten Café oder Restaurant im weinachtlichen Stockholm.

Blick in unseren Garten

Heiligabend fliegen wir nach Hause, nach Deutschland. Gut, dass wir schon heute Gelegenheit hatten, die deutsche Pünktlichkeit wieder einzuüben 😉

V.

 

Ein Stückchen Advent

Zu zweit essen Richard und ich Salzstangen am Adventskranz. Drei Kerzen brennen und verbreiten ein warmes Licht.

Zu zweit sitzen Gesina und Linnea am Fenster und lernen sich im Schein der kleinen Leselampe kennen.

Zu viert erleben wir einen Moment besinnlicher Adventstimmung und merken, dass es uns guttut.

Wir wünschen Euch allen einen gesegneten 3. Advent!

V